Ringzeit ist eigentlich immer. In Bayreuth wird es im nächsten Jubiläumssommer nicht nur zum ersten Mal einen „Rienzi“ im Festspielhaus geben. Ebenso interessant dürfte das Experiment eines szenischen KI-Rings werden. Wenn man sich in der Premiumetage der übrigen Wagnerhochburgen umsieht, dann könnte man fast meinen, dass Calixto Bieito und Tobias Kratzer in einen Ring-Wettbewerb auf beiden Seiten des Rheins getreten sind. Kratzer wird neben der Herkulesaufgabe, den Tanker Staatsoper Hamburg als regieführender Intendant flottzumachen und auf Kurs zu halten, in München an seinem Ring weiter basteln.
DIe Walküre in Paris. Foto: © Herwig Prammer – OnP
Nicht von dieser Welt … In Paris setzen Pablo Heras-Casado und Calixto Bieito ihren Ring mit der „Walküre“ fort
Und das einstige Enfant terrible Calixto Bieito ist dabei, Paris und der Opernwelt seine Ring-Version zu servieren. Beide, hübsch der Reihe nach, wie es im Buche steht. Es ist zwar nur ein Kalauer mit etwas makabrem Hintergrund, aber ob sich Paul-Georg Dittrich in diesen Wettbewerb in Köln links- oder rechtsrheinisch einordnet, lässt sich nicht so genau sagen. Mit dem „Rheingold“ hat er rechtsrheinisch in der provisorischen Spielstätte Staatenhaus begonnen. Wenn alles gut (also besser als bisher) geht, wird er vielleicht wieder linksrheinisch, in der dann sanierten Oper mit der „Götterdämmerung“ enden. Aber wer weiß das schon.
Beim Timing haben Bieito und Pablo Heras-Casado in Paris die Nase vorn. Im Januar gab es das „Rheingold“, jetzt folgte die „Walküre“ und im kommenden Januar geht es mit „Siegfried“ weiter.
Es liegt am Erfahrungspotenzial der Pariser Oper, ihres Orchesters und dem seit seinem Bayreuther „Parsifal“ unstrittigen Aufrücken des Spaniers Heras-Casado in die Riege der ersten Garnitur der Wagnerdirigenten, dass wie schon beim „Rheingold“, auch jetzt bei der „Walküre“ musikalischer Hochgenuss von Seine zu vermelden ist. Das Orchester reißt etwa beim stürmischen Vorspiel oder dem Walkürenritt mit und liefert betörend Einschmeichelndes, wenn die Winterstürme dem Wonnemond weichen, und ihm geht auch bei Wotans Abschied nicht die Puste aus. Heras-Casado hat aber auch einen sicheren Instinkt, die Balance zwischen Graben und Bühne zu wahren, wenn es bei den zentralen Dialogszenen zur Sache geht und es aufs Wort ankommt. Das gelingt ihm durchweg. Wenn die Geschwister aufeinandertreffen, dann wird die aufkommende Leidenschaft Siegmunds bei dem charismatisch timbrierten, kantablen Stanislas de Barbeyrac und der sich sicher in allen emotionalen Höhen und Tiefen der Sieglinde bewegenden Eliza van den Heevers zu einem packenden Genuss. Zumal die deutsche Direktion der beiden untadelig ist.
Im Falle von Brünnhilde und Wotan gilt das für ihre Begegnungen im zweiten und im dritten Aufzug unter ganz anderen szenischen Voraussetzungen genauso. Als Brünnhilde muss Tamara Wilson darstellerisch eine radikale Persönlichkeitsentwicklung glaubhaft machen und obendrein eine veritable körperliche Anstrengung bewältigen. Was ihr stimmlich ohne Kraftmeierei souverän und darstellerisch verblüffend glaubhaft gelingt. Sie reitet als verspieltes Kind im blauen Kleid auf einem Steckenpferd (ein augenzwinkernder Verweis auf Konwitschny?) herein und wird dann zur selbstbewusst rebellischen Frau, die sich auch ganz handgreiflich gegen ihren Vater stellt.
Christopher Maltman, der den Wotan recht kurzfristig für den erkrankten Iain Paterson übernommen hat, bleibt hier ein recht leidensfähiger Chefgott. Er hat Erdas Prophezeiung des Endes seiner Welt offensichtlich so verinnerlicht, dass er sogar mit Selbstmordgedanken spielt; was bei einem Gott allerdings vergleichsweise absurd erscheint.
Wenn es im zweiten Aufzug zum großen Ehekrach mit Fricka kommt (bei dem es um nicht weniger als den Bestand der herrschenden Moral, sprich Weltordnung, samt ihrer Tabus geht) ist sein Widerstand eher jovial. Das „Heut hast Du’s erlebt“ sagt er mit lässiger Geste und kassiert dafür sogar wohlwollende Lacher im Publikum. Das reizt aber Fricka, der EveāMaud Hubeaux eine solche Eiseskälte in ihrem ganzen Auftreten verpasst, dass die Versuche, ihn mit aggressiven erotischen Avancen auf Linie zu bringen, nichts fruchten. Der Untergangslogik ihrer Argumente kann er allerdings so wenig entgegensetzen wie ihrer Übergriffigkeit. Wenn sie sich erst über ein Futteral wälzt, das eigentlich nur den Speer als Symbol seiner Macht enthalten kann, so etwas Ähnliches dann entnimmt und ihn zwingt, dieses Ding Stück für Stück zu zerstören, dann ergibt das zwar mit Blick auf den weiteren Verlauf der Handlung kaum Sinn, demütigt ihn aber nachhaltig.
Bieito spielt seine Fähigkeit zupackender Personenregie aus, wenn es darum geht, die Traumatisierung einzelner Figuren zu verdeutlichen. Es ist verblüffend, wenn er etwa Hunding einerseits als sadistischen Macho zeigt, zugleich aber auch als einen Mann, der darunter physisch leidet, wenn er in einem Wachtraum miterlebt, wie sich Siegmund und Sieglinde lieben. Günther Groissböck läuft dabei stimmlich und darstellerisch zur Hochform auf! Oder wie irritiert Brünnhilde am Anfang über die allzu große Nähe ist, die Wotan zu ihr sucht. Von dessen gestörtem Verhältnis zu Fricka ganz zu schweigen. Es gibt viele solcher spannenden Momente im Detail.
Allerdings kollidieren der große postkatastrophische Ansatz und die Dominanz der Fassadenfront des martialisch hässlichen Walhall mitten in einer Welt, die man offensichtlich nur noch mit Schutzanzügen, Atemmasken und Sauerstoffvorrat betreten kann, gelegentlich mit den Versuchen einer psychologisierenden Feinzeichnung. In der Gitter- bzw. Fassadenkreation, die Rebecca Ringst im vorderen Teil der Bühne platziert hat, lässt sich problemlos Hundings Behausung in mittlere Höhe einbauen. Unten öffnet sich ein Raum für eine Kombination von Welt- oder Konzernzentrale, in der Wotan freilich nicht mehr im übertragenen Sinne die Strippen zieht, sondern nur noch wortwörtlich die Kabel aus der Wand.
Oben in der Höhe ist schließlich Platz für eine sterile, weiß ausgeschlagene Zelle (oder ein Therapieraum?), von der aus Brünnhilde die Todesverkündigung beginnt. Dass sie während dieser heiklen Szene ganz nach unten klettern muss, ist für einen erfahrenen Regisseur schon eine seltsame Idee bzw. für die Sängerin eine riskante Zumutung.
Bevor sich diese Fassadenstruktur in fünf separate Elemente auflöst, muss sie freilich noch als Auftrittsmöglichkeit für die Walküren und als Projektionsfläche für den sie begleitenden Videooverkill dienen. Die Walküren kommen in voller Schutzmontur mit grünen Lämpchen am Kopf, schmeißen achtlos die Leichen in die Tiefe und stechen dann auch noch wie von Sinnen auf sie ein. Ein Videosturm, bei dem das Tempo der Bildwechsel an der Wahrnehmbarkeitsgrenze bleibt, läuft allerdings genau auf die Manipulation der Zuschauer hinaus, als dessen Kritik man den Auftakt dazu noch sehen könnte. Da taucht nämlich noch einmal der witzige, vierbeinige Roboter auf und schaut in den erleuchteten Zuschauerraum (oder scannt ihn vielleicht sogar). Jedenfalls sehen wir dann die Projektion einer KI-generierten Masse von gleichgeschalteten Individuen als Spiegelbild der realen Zuschauer. Ob das eine Manipulation oder deren Vorführung ist, das gehört zu den offenen Fragen, die man nach dieser „Walküre“ mit nach Hause nehmen kann. Wie die, ob Wotan all das, was er durchgemacht hat, zumindest soweit verkraftet, dass er seine Wanderschaft im „Siegfried“ antreten kann. Wenn man ihn so vor sich hin tanzend im Nebel entschwinden sieht, könnte man daran zweifeln.
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