Dass die „West Side Story“ mit 66 Jahren eigentlich das Rentenalter erreicht hat, merkt man ihr nicht an. Solch ein Alter erleben nur wenige aus dem Genre Musical. Zumeist zählt hauptsächlich der kommerziellen Erfolg, weshalb sie vor allem von der leichten Seite des Seins künden und nur kurz im Rampenlicht glänzen. Aber Leonard Bernstein „West Side Story“ besteht, ermunterte in der jüngsten Inszenierung in Kiel (4. November 2023) das Publikum zu Ovationen.
Ovationen: Das Theater Kiel bringt Bernsteins grandiose „West Side Story“
Man weiß, dass Bernstein sich über das Genre Gedanken gemacht hatte. Er entschied, dass sein Werk keine Oper werden sollte, trotz des hohen musikalischen Anspruchs an das Orchester im Graben und den an des Ensemble auf der Bühne. Um dem nachzukommen, wurde es in Kiel folgerichtig wieder dort inszeniert, wo bereits das Wort „Opernhaus“ Anspruch verspricht.
Dass es doch ein Musical ist, verraten nicht nur die vielen grandiosen, eng mit der Handlung verbundenen Tanzszenen, es ist vor allem mit dem Schluss verbunden. Kein großes Finale entlässt das Publikum, das macht eine bestürzende Szene, in der ein dritter Tod sich ereignet, zugleich der tragischste. Dass Bernstein dafür keine Töne hat finden können, muss man wohl glauben. Er lässt einfach das Wort oder den Aufschrei wirken. Der sollte sich äußern, der von anderen für sie auserwählt war und aus schnöder Eifersucht sich rächte: „Wie viele Kugeln sind noch übrig, Chino?“ Die Frage stellt Maria, eine junge Frau, der ihre Zukunft genommen wurde und die dennoch zur Bluttat aus Rache nicht fähig ist. Welch’ eine hohe, zugleich quälende Gesinnung.
Nicht nur dieser Moment macht betroffen, der an das sinnlose Morden vieler verfeindeter Parteien erinnert. Er erinnert daran, dass als Widersacher zuerst an Juden und Christen gedacht worden war. Wäre das aufführbar gewesen? Es brachte zudem die letzte Inszenierung im Hause in den Kopf, in der „Samson und Dalila“, er ein Israelit und sie eine Bewohnerin des historischen Palästinas, in den Trümmern eines Tempels ums Leben kommen. Aber das ist ein anderer Schluss, alttestamentarisch und beispielhaft für eine Rache, die nur Verderben kennt. Maria dagegen entsagt dem wie dem Selbstmord. Ist dieser Schluss ein tragfähiges Modell, auch für andere Krisen?
Arthur Laurents, der das Buch verfasste, Stephen Sondheim, der die Gesangstexte schuf, und Bernstein hatten sich für dieses Ende entschieden. So ist das bekannte Musical mit den gut kalkulierten Momenten und mit seiner feinsinnigen inneren Struktur aufführbar geblieben, zumal es die Handlung auf einen ethnischen Konflikt begrenzt und im gleichen Moment assoziativ entgrenzt. Es ist der Konflikt zwischen den Sharks, den jüngst immigrierten Puerto-Ricanern, und den bunt zusammengewürfelten Jets. Auch sie sind eingewandert, nur schon länger im Lande. Das Team der Theaterleute hielt sich eng an die vorgegebene Fassung, bis auf Lars Peter, der in seinem sehr wandlungsfähigen Bühnenbild wohl nicht auf Aktuelles verzichten wollte. Er hatte links und rechts die für New York typischen hohen Wohntürme aufragen lassen, in der Mitte, mehr im Hintergrund, dagegen einen Wolkenkratzer, dessen Fensterfassade wie nach einem Bombardement zerbrochen aussah.
Die Gesangstexte wurden in ihrer ursprünglichen Sprache belassen. Gut so. Weniger gut wirkten sich die Dialoge in der Verdeutschung durch Frank Thannhäuser und Nico Rabenald aus. So zwingen die Darsteller, vor allem die Tänzer, englisch zu singen, jedoch deutsch zu sprechen. Viele von ihnen kommen aus aller Herren Länder. Es ist schon erstaunlich, dass diese Vielfalt der Herkunft zu solch einheitlicher Tanzkunst führt, die der Kieler Ballettmeister Yaroslav Ivanenko für sein Ballett und nur sehr wenige Gäste sich erdacht hatte. Daniel Karasek, Chef des Hauses und zuständig für die Dialogregie, darf man zugestehen, dass er sich sorgsam um ein verständliches Sprechen bemüht hatte. Aber allen, den Jets aus der Ukraine, Kasachstan oder Wales, ihren Mädels aus Italien oder Kirgisistan, sowie den Sharks aus Brasilien, Russland oder Cuba bis hin zu den Philippinen und Japan, ihnen allen ein verständliches Dialogdeutsch zu entlocken, ist nicht immer gelungen. Auch die Microport-Anlage half nicht, verdarb eher.
Was aber dennoch blieb, war ein geschlossener Gesamteindruck. Chenglin Li, der zweite Kapellmeister, führte das Kieler Orchester ausgesprochen sorgsam, die „Ouvertüre“ noch weich, ohne rechten Biss. Der aber erfolgte schon in Riffs „Jet Song“, bei dem der Amerikaner Gregory Antemes dieser Szene in Stimme und Bewegung die nötige Härte gab. Sein Widerpart bei den Sharks, ihr Anführer Bernardo, wurde ebenso wirkungsvoll dargestellt vom Brasilianer Thiago Fayed. Er hatte die rechte Mischung von Eleganz und Selbstbehauptung.
Unter den Frauen stach neben der Hauptfigur die Darstellerin der Anita hervor. Sie war einem Gast übertragen, der auf Zypern geborenen Maria Pambori, die ihre Rolle mit starkem Selbstbewusstsein ausstattete und mit großer Empathie. Dennoch bleiben die beiden Hauptfiguren im Zentrum des Interesses, die Darstellerin der Maria und die des Tony. Maria sang Xenia Cumento, ein Ensemblemitglied mit einem Sopran von großer Ausdrucksbreite und einer feinnervigen Ausdruckskraft. Auch ihr Tony, der Gast Gonzalo Campos López, ein Spanier, überzeugte mit kräftiger Bruststimme und agilem Spiel. Das Schöne an dieser Paarung war, das beider Artikulation gut verständlich war, obwohl beider unterschiedliche Herkunft herauszuhören war.
Musikalische Höhepunkte gab es genug, auch mitreißend getanzte Szenen. Das rechtfertigte allemal den großen Beifall.
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