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BERLIN 1920 - Eine Burleske. Foto: © Lioba Schöneck
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Rausch und Untergang – Goldene und schwarze 20er Jahre getanzt im Münchner Cuvilliéstheater

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So viel Aufbruch war selten. So viel Scheitern auch – damals: „Berlin 1920“ heißt die multimediale Kreation von Ballettchef Karl Alfred Schreiner, die das unbehauste Staatstheater am Gärtnerplatz nun im kontrastreichen Rahmen des Cuvilliéstheater servierte.

Als „Burleske“ wollen Schreiner, Dramaturgin Judith Altmann und Dirigent Michael Brandstätter ihre Collage verstanden wissen - ganz in der Tradition der amerikanischen Variete-Shows, die nach dem 1.Weltkrieg auch im Berliner „Metropol“, „Apollo“ oder „Wintergarten“ freche zeitgenössische Musik, Gesang, Kabarett, Tanz, Akrobatik und Film keck zu einer populären Massenkultur vermischten. Dementsprechend musizierte Brandstätter mit dem Orchester live und hoch engagiert ausgewählte Teile aus Hanns Eislers „Suite Nr.5“, Kurt Weills „Kleiner Dreigroschenmusik“, George Antheils „Jazz Symphony“, Darius Milhauds „Konzert für Schlagzeug und Orchester“ und „Creation du monde“ sowie Ernst Kreneks „Sinfonie Nr. 3“.

Schon da wurde die kreative Spannweite jener demokratischen Aufbruchsjahre hörbar, speziell wie „E-Musik-Komponisten“ auf die neuen Einflüsse reagierten. Dazu kontrastieren dann Orchesterpausen, in denen mit Rauschen und Knacken der Schellack-Platten-Zeit sechs passende Schlager eingespielt werden. Im roten Teufelchen-Kostüm kommt Nadine Zeintl als zierliche Chansonette und raunzt mal mit schrägem Männer-Timbre, mal mit gewollt piepsigem „Mädi“-Tonfall was von „Musik, Musik“, „…als Kind zu heiß gebadet…“, von „Mein Hund beißt jede hübsche Frau ins Bein“ bis zu „Das gibt’s nur einmal…“ – all das immer brüchiger und verzweifelter – eine Fortführung ihrer unvergesslichen Sally Bowles in der „Cabaret“-Produktion des Gärtnerplatztheaters.

Denn parallel zur Show-Seite jener „Goldenen Zwanziger“ spart Schreiner dramaturgisch überzeugend die Schattenseite nicht aus. Der Abend beginnt nach einigen eigens gedrehten, schwarz-weißen Stummfilm-Szenen mit der heimlichen Liebe zwischen der karrierefixierten Bürgerstochter Eva und Fabrikarbeiter Hans „unter der Laterne“, projiziert auf den Zwischenvorhang … dann ein hübscher Theatercoup: beide treten aus dem Filmbild durch eine Vorhangstür live und farbig aufs Proszenium und der Vorhang fährt hoch zur kunterbunten Bühnenhandlung.

Auch dort zwei Berliner Welten: vor Projektionen aus „Metropolis“ thront der zwielichtige Fabrikant und elegante Nachtclubbesitzer Richard von Stetten über einer wummernden, rauchigen Arbeitswelt – in einer Fortführung der „Stomp“-Tourneeshow schlägt die Tanztruppe in grauer Arbeitsmontur auf Blechtonnen die von David Sitges-Sardà eigens komponierten, raffiniert „inhumanen“ Rhythmen industrieller Produktion. Mit seiner pantomimisch gut sprechenden, mal den Ausdruckstanz jener Jahre imitierenden, oft Modern Dance-Elemente verzerrenden, teils akrobatischen Tanzsprache erzählt Schreiner von der Liebe im kapitalistischen Taumel: Kokain-Räusche mit tanzenden Traum- und Grotesk-Figuren (Szenen-Beifall für die Kompanie); Eva wird Fabrikanten-Geliebte, bis der Drogenkonsum ihre kometenhafte Tänzerinnen-Karriere ruiniert und der inzwischen arbeitslos verzweifelnde Hans den Nachtclub in Brand steckt. In fast utopischer Weise befreit Eva ihren Hans – hier gelingt Schreiner dann auch ein nicht zerquälter „Liebes-Pas-de-deux“, den die bildschöne Sandra Salietti und Alessio Attansio emotional sprechend tanzen.

Bei der fast märchenhafte Flucht begleitet ein zweiter Theatercoup: in Paul Abrahams „Eins, zwei, drei und vier“ fährt der Eiserne Vorhang herab, alles Licht verlischt, in der Dunkelheit verlassen Dirigent und Orchester exodus-artig den Graben, am verwirrten Publikum vorbei – und in die Finsternis schnarrt Hitlers Rede von der „Größe teutscher Kultur“… konsternierte Stille und dann beeindruckter Beifall. Der muss die unsichtbare Technik, Maske und Kostüm für ihre rasant fließenden Wechsel einschließen. Was für ein unterhaltsam erschreckendes Menetekel in unseren Niedriglohn- und Rechtsbündnis-Zeiten!

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