Zu Lebzeiten des Komponisten Hector Berlioz gelangte nur der zweite Teil seines Hauptwerkes zur Aufführung. Erst Felix Mottl führte 1890 in Karlsruhe beide Teile der „Trojaner“ an zwei Abenden auf. Die erste vollständige Gesamtaufführung erfolgte erst 1969 in Glasgow; Regieassistent dieser Produktion war David Pountney, der nun „Les Troyens“ zum ersten Mal selbst inszenierte: weniger eigenwillig als man es von diesem Regisseur gewohnt ist, aber mit erhellenden Momenten und mit deutlicher Steigerung in den Schlussakten. Vom Publikum bejubelt wurde insbesondere der neue GMD Donald Runnicles.
Vom Trojanischen Pferd, ebenso hölzern und erdfarben, wie die überdimensional den Bühnenraum bestimmenden Streitäxte der Trojaner, ragt nur der Kopf und ein Huf ins Bild. Im ersten Teil des Doppelabends, dem musikalisch und szenisch sperrigeren „Fall von Troja“, herrscht auf der Bühne Dunkelheit vor. Die Eroberung Trojas aus Sicht der Betroffenen kommt mit Stop-Motion-Bewegungen des Chores sprichwörtlich langsam in Gang. Überzeitlichkeit betonen Fotos der Gefallenen, die von den Frauen in Bilderrahmen im side-by-side Schritt ostentativ hoch gehalten werden, ein verrosteter Rollstuhl als Thron für König Priamos, und rostige Bettgestelle und Stühle auf einer hereingefahrenen Fläche. Die erweist sich, senkrecht gestellt, als eine Art von Schicksalsrad, an dem die suizidalen Troerinnen ihre letzten Zuckungen vollziehen, um sich nicht den griechischen Eroberern ausliefern zu müssen. Berlioz’ erste zwei Akte leben insbesondere von der Persönlichkeit der Darstellerin der Kassandra. Petra Lang singt diese Partie zwar beachtlich, besitzt aber für die sich zwischen Pathos und wildem Schmerz aufbäumende Seherin zu wenig Charisma. Hier strickt sie mir roten Nadeln an einem Pferdekopf – ein Motiv, das am Ende des Abends von der leidenden Dido erneut aufgegriffen wird.
Nach der ersten Pause des ungewöhnlich früh, bereits um 16 Uhr, beginnenden Opernabends ändert sich für „Die Trojaner in Karthago“ nicht nur die Klangwelt, sondern auch die Farbigkeit der Ausstattung (Bühnenbild: Johan Engels, Kostüme: Marie-Jeanne Lecca). Am Hofe der Königin Dido herrschen Grün, Gelb und Rosa in Pastelltönen, mit einem kinetisch geführten Schleier und einer einladenden Kissenlandschaft. Der von William Spaulding einstudierte, spiel- und sangeskräftige Chor und Extrachor werden von der Regie – analog der Musik – in gefälligen Arrangements und in geschickter Großfiguration bewegt, in der Abfolge gehorchend dem Tableau der Grand Opéra, bei der auch die Balletteinlagen nicht fehlen dürfen. Hier sind es die Tänze der Bauarbeiter, Schiffer und Bauern am utopischen Friedensstaat der Königin, zu dem bei Berlioz Original auch ein eigenes Amphitheater gehört. Das Opernballett der Deutschen Oper Berlin erweist sich leider als Schwachpunkt, was nicht an Renato Zanellas Ideen, aber an der unpräzisen Umsetzung der technisch fragwürdigen Tänzerinnen und Tänzer liegt. Aus der Versenkung brechen die gestrandeten Trojaner bei den Karthagern ein, um anschließend sogleich gemeinsam mit dem Friedensvolk in den Krieg zu ziehen und die Numider zu besiegen.
Erst mit dem musikalisch besonders inspirierten, im großen Liebesduett von Dido und Aeneas auf Shakespeare-Texten fußenden vierten Akt setzt dann deutlich die Handschrift des Regisseurs David Pountey ein. Die allegorische Jagd von Najaden, Faunen und Waldgeistern wird zu einem höchst realistischen, nur durch das Mittel Tanz verfremdeten Bild der Eroberung karthagischer Damen im grünen Bikini; von den fremden Ankömmlingen unterworfen und geschwängert, kletten sie doch an ihren Unterdrückern. Die Frauen gebären durchsichtige Bälle, die als Spären unmittelbar überleiten zum sphärischen Bild eines hoch artifiziellen Liebestraums. Dido und Aeneas, die sich vorher in einer für Opernsänger ungewöhnlichen Direktheit und Ausführlichkeit geküsst und geknutscht hatten, steigen in ringförmige Flugwerke und schweben mit ihrem Zwiegesang in einem afrikanischen Sternenhimmel à la Walt Disney.
Im facettenreichen Schlussakt schafft Pountney noch die Steigerung an ungewöhnlichen Momenten und Bildern. So etwa im komischen Macho-Dialog eines rauchenden und eines trinkenden Soldaten (Markus Brück und Lenus Carlson), sowie der blutig, mit noch in ihren Körpern steckenden Mordwaffen, zur Abreise nach Italien mahnenden Märtyrer-Gottheiten. Didos Selbstmord erfolgt in jenem rostigen Rund, in dem sich am Ende des ersten Teils die Troerinnen getötet hatten. Empfangen wird sie von der ihr geistig zur Schwester gewordenen, toten Kassandra. Den Weg der souveränen Königin über die zaghaft, ihrem Witwenschwur verpflichtete Liebende zur exzentrischen Geliebten des Äneas, dann zur verzweifelten und Rache sinnenden Verlassenen, bis hin zur Verklärung im Tod, gestaltet Béatrice Uria-Monzon im Einsatz stimmlicher Nüancen zwischen Belcanto und deklamatorischem Gesangsstil uneingeschränkt bewundernswert. Ihr zur Seite ein im Einsatz seines kraftvollen Tenors überzeugender Partner ist Ian Storey als Aeneas.
Unter der musikalischen Leitung von Donald Runnicles spielt das Orchester der Deutschen Oper in Bestform. Der Dirigent arbeitet die Modernität der unzeitgemäßen Partitur heraus, lässt aber dabei die dem Stil der alten Oper verhafteten klassischen Modelle ebenso zu ihrem Recht kommen, wie die ungewöhnliche Periodik des Komponisten. Die musikalischen Stimmungswechsel geraten ihm nie abrupt, aber gleichwohl zwingend, und Berlioz’ raffinierte Instrumentation und spezielle Effekte, wie die Bühnenmusik der Sax-Hörner hinter der Szene im 4. Akt, werden zu wirkungsstarken Höhepunkten im Reigen orchestraler Farbwirkungen.
Lautstarker Jubel dankte dem neuen GMD der Deutschen Oper Berlin schon nach den beiden Pausen des Premierenabends. Am Ende tosender Beifall für eine großartige Ensembleleistung. Einige Unmutsstimmen, aber offenbar weniger, als der das Publikum zum Crescendo animierende Regisseur erwartet hatte, waren für das Regieteam zu vernehmen.
Weitere Aufführungen: 5., 11., 16., 19. Dezember 2010, 6., 11., 20. März 2011
Deutschlandradio sendet die Oper in einer ungewöhnlichen Aufteilung:
Die Akte 1 bis 3 am 11. Dezember 2010 ab 19:05 Uhr
und die Akte 4 und 5 am 12. Dezember 2010 ab 20:03 Uhr.