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Das ungewöhnliche Schicksal von zwei englischen Zwillingsschwestern gab Tobias PM Schneid den Anstoß zur Komposition des Musiktheaters „swin swin“, das am 17. Oktober am Staatstheater Saarbrücken uraufgeführt wird.
Marylin und Mirjam lebten abgekapselt in einem Zimmer, standen mit den Eltern nur noch im brieflichen Kontakt. Sie teilten ihre Welt beinahe ausschließlich mit ihren Puppen, erfanden eine eigene Sprache und Schrift, dachten sich eigene Spiele aus. Eines Tages hatte eine Psychologin entdeckt, daß die Mädchen englisches Vokabular benutzten, sie artikulierten nur falsch und redeten in irrwitzigem Tempo. Es gab noch andere Kuriositäten: Die Zwillingsschwestern bewegten sich zeitweise synchron und in Zeitlupe. Keiner durfte etwas vor dem anderen bekommen oder tun: Gemeinsam stiegen sie – jeweils links und rechts – ins Auto ein, nur gemeinsam betraten sie ein Zimmer. Trennung konnten sie nur für kurze Zeit ertragen, obwohl genau dies ihr sehnlichster Wunsch war. Dieses enge Netz aus Liebe und Haß, aus Bindung und Abhängigkeit zerriß auf einen Schlag, als eines Tages eine der beiden ohne ersichtlichen Grund starb. Von diesem Tag an lebte die „Überlebende“ ein normales Leben.
Der Stoff habe die Initialzündung für das Projekt ausgelöst, sagt Matthias Kaiser, Regisseur und Dramaturg am Staatstheater Saarbrücken. Von Anfang an sei er durch die Geheimsprache der Zwillinge, von der Idee der „siamesischen Zwillinge der Seele“ beeindruckt gewesen. Das Resultat war ein Kompositionsauftrag an Tobias PM Schneid. Mit einem überraschenden musikdramaturgischen Kunstgriff ist es Schneid dann gelungen, sowohl die Seelenlage wie auch die äußere Welt der beiden Hauptdarstellerinnen zu beschreiben: Die Zwillinge werden durch zwei Schauspielerinnen verkörpert – die Außenwelt – sowie durch je einen Sopran, einen Alt und einen Countertenor – die Innenwelt. Neben diesen ungewöhnlichen Besetzungen finden sich aber auch „normal“ besetzte Rollen: das Spielkind als leichter Sopran, die Mutter als Mezzossopran, der Erziehungsbeauftragte in einer Sprechrolle. Schneid gibt seiner Musik die Aufgabe, bestimmte emotionale Felder darzulegen. Dabei kann Musik einmal szenenunterstützend sein, sie kann analog zur Handlung verlaufen, oft bleibt sie auch völlig autark. Das geht soweit, daß Text, Schauspiel und Musik ein völlig unterschiedliches Ende haben können.
Für „swin swin“ benutzt Schneid eine Kammerorchesterbesetzung. „Ein großer ,Operngestenapparat‘ wird durch mein Werk nicht unterstützt“, betont der Komponist. „Mein kompositorisches Interesse liegt im Bereich der Klangfarben und der Harmonik. Das Komponieren von Klangfarben nimmt mindestens den gleichen Stellenwert ein wie das Komponieren der Parameter Tonhöhe, Dynamik, Tondauer.“
Kaiser greift das Groteske der Handlung auf und überhöht es: Er inszeniert aus der Sicht der Zwillinge: Sie sind die „Normalen“, die Außenwelt ist „verrückt“. Der Bühnenraum wird zur Chiffre, die Darsteller bewegen sich in einem Glaslabyrinth, auf das das Publikum Draufsicht hat. Der exzessive Schreibzwang der Zwillinge findet seine Entsprechung in einem riesigen Tagebuch, das fünfjährige Spielkind der Zwillinge wird von einer sechzigjährigen Sängerin dargestellt.
„swin swin“ ist eine Koproduktion des Staatstheaters Saarbrücken und des saarländischen Fernsehens: Kaiser bemühte sich deshalb gleich von Beginn an um eine fernsehgerechte Inszenierung, indem er bereits bei seiner Bühneninszenierung mit dem TV-Regisseur Axel Fuhrmann zusammenarbeitete. Kaiser steht mit der Feuerwache in Saarbrücken eine Shakespearebühne zur Verfügung: Das Publikum sitzt an den Seiten des Bühnendreiecks, dadurch ist das Orchester nicht im Graben vor dem Publikum, sondern erklingt von hinten. Das Bühnenbild wird durch einen großen Turm bestimmt, in dem sämtliche Sänger und Sängerinnen der Zwillinge agieren. Dieser Turm teilt sich später – in zwei Zwillingstürme – und gibt die Spielfläche für die Schauspielerinnen und die restlichen Akteure frei. Zwei Labyrinthe aus Plexiglas haben die Doppelfunktion, als Auftritt zu dienen, sowie auch Symbol zu sein für die von den Zwillingen als verwirrend wahrgenommene Außenwelt.
Fuhrman nimmt den Gedanken des Labyrinthes in seinem TV-Porträt des Künstlers auf: „Alles ist in einem labyrinthischen Raum inszeniert, in einer Art Analogie zur Operninszenierung“. „swin swin“ soll in der Karwoche 1998 auf Südwest 3 ausgestrahlt werden. Das Porträt über Schneid, in dem dieser vor allem als Komponist von Kammermusik vorgestellt wird, wird ebenfalls in diesem Zeitraum auf Südwest 3 zu sehen sein.
Ein Blick in die Partitur läßt eine immense Stilvielfalt erahnen: Schneid stellt sich einem stilpluralistischen Gedanken. „Das ,anything goes‘, das heute möglich ist, macht die Arbeit für den Komponisten schwierig, aber gleichzeitig auch spannend“, führt der Komponist aus. Nicht das Neue erfinden sei wichtig, sondern wie ein Komponist mit vorhandenem, bereits erfundenem Material umgehe.
So wie die sich absondernden Zwillinge Worte aus ihrer gängigen Bedeutung herauslösten und in einen persönlichen und originären Zusammenhang stellten, so löst Schneid allgemeine musikalisch Topoi aus ihrem Sinnzusammenhang und stellt ihre scheinbare Eindeutigkeit in Frage.
Die fremde Welt der Protagonisten bleibt dem Zuschauer bis zum Ende fremd, er bleibt mit den aufgeworfenen Fragen zurück. Librettistin Elisabeth Gutjahr ersann eine Geheimsprache, die jedoch zusammen mit der Musik und den Bühnenaktionen durchaus allgemeinverständlich sein kann. Auf der anderen Seite sind die Teile des Librettos, die in „Normalsprache“ sind, von Schneid oft so auskomponiert, daß sie einer gewissen Mehrdeutigkeit Raum lassen.
Errico Fresis, der die Uraufführung leiten wird, ist von Schneids Klangsinnlichkeit fasziniert: „Es ist erfreulich für einen Dirigenten, wenn er bei Neuer Musik – die sich der Errungenschaften der zweiten Wiener Schule und der Moderne durchaus bewußt ist – nicht nur zählen und Takt schlagen muß, sondern wenn die Musik etwas Musikantisches besitzt und meinen musikalischen Instinkt – und auch den des Orchesters – anspricht“.