Seit nunmehr sechs Jahren stellt das Opera Lab Berlin, 2014 vom Komponisten Evan Gardner und dem Regisseur Michael Höppner gegründet, die Idee einer radikalen musikalischen Gleichberechtigung aller Mitwirkenden in den Mittelpunkt seiner Arbeit. Wie bei allen seither präsentierten Projekten – darunter neben Gardners „Gunfighter Nation“ (2016) unter anderem eine Realisierung von Mauricio Kagels „Staatstheater“ (2017) und die Uraufführung von Brigitta Muntendorfs „Songs of Rebellion“ (2019) – profitierte auch das Ende Januar aus der Taufe gehobene Stück „Odyssey: Dead Men Die“ von der hierarchielosen Arbeitsweise des Ensembles, bei der sämtliche Aspekte der Aufführung in gemeinsamer Verantwortlichkeit entwickelt werden. Das Ergebnis machte deutlich, welche wichtigen Impulse zur Erneuerung des Musiktheaters derzeit aus der freien Szene kommen.
Nicht ohne Hintersinn hatte man das ehemalige Berliner Stummfilmkino „Theater im Delphi“ als Räumlichkeit für die Aufführungen gewählt, entpuppte sich der antike Held doch als abgehalfterter Schauspieler, der nach Jahren der Abwesenheit bei der Vorführung des neuesten Odysseus-Blockbusters mit seiner Frau, einer frustrierten Kinobesitzerin, und dem zornigen Sohn zusammentrifft. An Episoden aus Homers „Odyssee“ entlang sowie unter Bezug auf James Joyces „Ulysses“ und inspiriert von Margaret Atwoods „Penelopiad“ schufen Gardner und Höppner ein Libretto, in dem die Homer’schen Verse immer wieder an der schlagwortartigen Sprache heutiger Werbung gebrochen werden.
Dadurch treten jene Mechanismen propagandistischen Redens hervor, die mittlerweile auch auf politischer Bühne Einzug gehalten haben: Der Kampf des Odysseus gegen zerrüttete Familienverhältnisse und gesellschaftliche Krisensituationen erschöpft sich in populistischen Versuchen, die „gute alte Zeit“ gewaltsam durch Restitution patriarchalischer Verhältnisse zurückzuholen, wozu er sich – Macht- und Manipulationsmittel par excellence – der Sprache und visueller Medien bedient.
Diese Geschichte wurde vom Opera Lab zu einer ebenso prallen wie hochpolitischen Theaterfarce modelliert und, mit Bühnenbildern von Martin Miotk und Videos von Christian Striboll ausgestattet, von Höppner in Form eines Stationentheaters an mehreren Spielorten innerhalb des Hauses inszeniert. Daraus ergaben sich bedeutsame Konsequenzen für das Publikum, das bald von der anfänglich eingenommenen Position distanzierter Beobachtung auf eine Irrfahrt durch die Räumlichkeiten geschickt wurde, um schließlich stehend oder wandelnd mit dem an unterschiedlichen Stellen entfalteten Geschehen konfrontiert zu werden.
Mit ihren Wechseln zwischen fein ausgearbeiteten Teilen und grobmaschiger strukturierten Passagen lieferte Gardners Musik den Ausgangspunkt für diese Konzeption. Dass dabei auf allen Ebenen mit stilistischen Referenzen gearbeitet wurde, machten die Auftritte der drei Hauptfiguren deutlich: Countertenor Georg Bochow präsentierte sich als moderner Telemach in Gestalt eines Popcornverkäufers, der in Anlehnung an Kagels „Ein-Mann-Orchester“ die Klänge eines auf dem Rücken befestigten Schlagzeugs mit Gesang, Sprache und Aktion verband.
Der wandlungsfähigen Sopranistin Gina May Walter fiel dagegen die Aufgabe zu, die wahre Persönlichkeit der Penelope hinter zahlreichen anhand von Ausdrucksklischees modellierten musikalischen Masken samt daran angepasster Gesten zu verbergen. Und Bariton Martin Gerke gab einen wunderbar schmierigen Odysseus, der seine überzeichneten Annäherungsversuche an die Diktion eines Heldentenors mit allerlei sexistischen Pointen garnierte.
Dass darüber hinaus auch die übrigen Mitglieder des Opera Lab für einprägsame Momente sorgten – etwa in der Sirenen-Sequenz, in der sich Frauenstimmen und Thereminklänge zu einem verführerisch schillernden Hybrid vermischten, oder in der Hades-Szene, in der Cellist David Eggert in einem Penis-Kostüm über Sünden sinnierte und sich mit Feedback-Klängen einer elektronisch manipulierten Gambe begleitete –, ließ den Abend zu einem gelungenen Ereignis werden. Die Aufführung machte nicht nur deutlich, wie kreativ Gardners Vorgaben zu einem Musiktheatergefüge geformt wurden, sondern sie zeigte auch, mit welcher Perfektion man sprechend, singend, im Verband mit anderen oder solistisch den hohen performativen Anforderungen des resultierenden Gebildes begegnete.