Mit einem epochenübergreifenden Marathonprogramm ist in Berlin der Pierre Boulez Saal der Barenboim-Said Akademie eröffnet worden. Dabei zeigte er sich für klassische Kammermusik und das romantische Lied als ebenso geeignet wie für größere Ensemblewerke des 20. Jahrhunderts. Konzerteindrücke von Juan Martin Koch:
Wenn man die Galerie des Pierre Boulez Saals betritt, erfasst einen ein leichter Schwindel. Denn die beiden oberen Sitzreihen umlaufen das Auditorium nicht geradlinig, sondern in stark geschwungener Form. Die Sitzplätze befinden sich somit auf einer schiefen Ebene, die wie eine Hörkurve im Raum zu schweben scheint. „Musik für das denkende Ohr“ soll dem Saalmotto gemäß hier erklingen. Eine erste kleine Irritation kann da nicht schaden.
Kein Zweifel: Dem Architekten Frank Gehry ist hier ein ganz besonderer Wurf gelungen. Der relativ steile Blick nach unten öffnet die Perspektive auf die zweite, gegenüber dem Rang leicht verschobenen Ellipse, die ganz selbstverständlich in dem eigentlich rechteckigen Saal Raum greift. Als „Salle modulable“ kann die Bühnenposition durch Verschieben der innersten Sitzreihen frei variiert werden. Gut, wenn diese in Zukunft möglichst gefüllt sind, denn die merkwürdigen Farbmuster auf den Polstern trüben den wunderbaren optischen Eindruck ein wenig.
Und wie klingt's in der einmal mehr von Yasuhisa Toyota akustisch betreuten Doppelellipse? Hören wir mal rein in die „Initiale“ des Namensgebers: Boulez hat hier eine effektvolle doppelchörige Blechfanfare geschrieben, und wie die beiden Gruppen sich - von gegenüberliegenden Positionen auf der Galerie aus geblasen - entfalteten, war schon mal eine erste Ansage: klar und prägnant, mit samtiger Resonanz.
Den nächsten Prüfstein bildete der bestens fokussierte, die wechselnden Gemütslagen in Schuberts „Hirt auf dem Felsen“ farbig abschattierende Sopran Anna Prohaskas. Auch hier reicherte das holzige Timbre der Saalakustik den Klang aufs schönste an, ohne ihn zu verunklaren. Nach anfänglicher Unsicherheit umspülte Jörg Widmanns Klarinette die Gesangslinie mit großer Finesse, Maestro Daniel Barenboim beschränkte sich darauf, die Härten des Flügels mit viel Pedal zu einem atmosphärischen Dauermurmeln abzumildern.
Vor allem das linke Pedal bemühte Barenboim auch in Mozarts Es-Dur-Klavierquartett, der Ton wurde dadurch aber eher stumpf als sanglich. Kammermusikalisch war das allerdings fein musiziert. Aus den Händen Michael Barenboims an der Violine, Yulia Deynekas an der Bratsche und Kian Soltanis am Cello atmete der Saal Mozarts Geist.
Unterbrochen von einer zweiten Pause und Jörg Widmanns in allen stilistischen Facetten schillernder „Fantasie“ für Soloklarinette, füllte sich das zentrale Podium dann. Zunächst für Alban Bergs Kammerkonzert und abschließend für Pierre Boulez' „sur Incises“. Die beiden anspruchsvollen Werke waren beim neu ins Leben gerufenen Boulez Ensemble in kompetenten Händen, die Einstudierung offenbar so akribisch, dass Dirigent Barenboim seine Zeichengebung aufs Nötigste beschränken konnte.
Der überragend intonationssichere Geiger Michael Barenboim und Karim Said am Klavier bewältigten ihre monumentalen Soloparts im Berg-Konzert mit bewundernswerter Selbstverständlichkeit. Die Trennschärfe, die der Saal zwischen ihnen und der 13-köpfigen Bläsergruppe zuließ, war beeindruckend. Einzig die dynamischen Abstufungen hätten noch kleinteiliger ausfallen können.
Der Höhepunkt, was Lautstärke betrifft, war gegen Ende von Boulez' „sur Incises“ erreicht. Völlig ungerührt von der an drei Klavieren, drei Harfen und von drei Schlagwerkern aufgetürmten Kaskade, schien der Saal nur kurz die Luft anzuhalten, um diese dann spektral aufgefächert ans Publikum zurückzuspielen. Eine von vielen faszinierenden Passagen in dieser rhythmisch mitreißenden, klangschillernden Partitur.
Die lag nicht nur auf Daniel Barenboims Pult, sondern auch auf dem Schoß seines Kollegen Zubin Mehta, der schon das Kammerkonzert Bergs als aufmerksam mitlesender Zuhörer verfolgt hatte. Wie viele andere hielt es ihn nach dieser über weite Strecken beglückenden Marathon-Matinee (der Wiederholung des Eröffnungskonzerts vom Vortag) nicht mehr auf seinem Sitz. Musik für das dankende Ohr.