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Pelleas et Melisande in Liège. Foto: J. Berger, ORW-Liège

Pelleas et Melisande in Liège. Foto: J. Berger, ORW-Liège

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Trauma und Toteninsel: „Pelléas et Mélisande“ als opulenter Psychotrip in Liège

Vorspann / Teaser

Die vom Teatro Regio di Parma an die Opéra Royal Wallonie-Liège übernommene Inszenierung von Barbe & Doucet gab die Vorlage zu einer Glanzleistung: Claude Debussys „Pelléas et Mélisande“ erklang als opulentes Fragespiel frei nach Arnold Böcklin und musikalisch intelligentes Leuchtfeuer. 

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Wie bebildert man Maurice Maeterlincks aphoristisch-antidramatisches Fragespiel, das Claude Debussy zu seiner einzigen vollendeten Oper inspirierte und damit 1902 an der Opéra-comique ein ganz wichtiges Tor zum Musiktheater des 20. Jahrhunderts aufriss? Aus der vertonten Prosa in „Pelléas & Mélisande“ springt noch einiges vom Emotionszentrismus der zweiten Romantik, das man in den Symbolismus und den Spiritualismus des Fin de Siècle mitschleppte. Zudem kann man Debussys radikales Experiment als Surrealismus-Vorwegnahme in der für diese unerwarteten Nische des Musiktheaters betrachten. Die vom Teatro Regio di Parma an die Opéra Royal de Wallonie-Liège übernommene, davor während der Pandemie aufgezeichnete Inszenierung setzt das mit einer verschwenderischen Anhäufung szenischer Zeichen und Zitate, aber vorsätzlich rätselhaft um. Das kanadische Inszenierungstandem Barbe & Doucet betreibt also keinerlei Aufklärungsrecherche. Claude Debussys wunderbare Partitur bleibt ein Seelenkrimi, in dem die Figuren an anderem leiden und sterben als unter physischem Gewalteinfluss. 

Der Findling Mélisande – kurz darauf auch Yniold, der Sohn ihres Ehemannes Golaud – schält sich heraus aus einer Gruppe weiß vermummter Frauen. Kein Zweifel: Maeterlincks und Debussys dunkles Königreich Allemonde ist gespeist aus Motiven von Arnold Böcklins Zyklus „Die Toteninsel“, dieser genialen Gemäldeschnittstelle zwischen historistischem Realismus und Symbolismus. Die vermummten Frauen sind wie Blaubarts abgelegte Frauen in Maeterlincks-Dukas’ „Ariane & Barbe-Bleue“. Der Mann, der Mélisande ohne direkte Berührung ein unermesslich tiefes Leid getan hat, kommt am Ende wieder als sie entbindender Arzt (Roger Joakim). Derart traumatisiert ist Mélisande bei Barbe & Doucet, dass sie zu Gefühlen unfähig bleibt und gerade deshalb verhaltene, aber desto brennendere Leidenschaften und melancholische Obsessionen bei den Halbbrüdern entfacht. Beim Gewaltausbruch Golauds und in der Liebesszene Pelléas stellen Barbe & Doucet Mélisandes Schwangerschaft überdeutlich aus. Der Abend ist auch die allegorische Reihung von Situationen eines Frauenlebens um 1900, an dessen Ende und Auslöschung der toxischen Dreiecksbeziehung zwischen Pelléas, seinem ihm ähnlichen älteren Bruder Golaud und Mélisande die Versöhnung der Familie steht. Also kommt der alte König Arkel (Inho Jeong) hier nicht wie in den letzten „Pelléas“-Regietrends als übergriffiger Lustgreis daher. Dafür gibt es zwischen ihm und Mélisande, wie das aus Debussys Musik spricht, zutiefst innige Momente. 

Auf der Bühne fahren grüne Rasenflächen. Von einem geneigten steinernen Frauenkopf fällt in der hocherotischen Turmszene Mélisandes Haar wie Regen. Die Figuren bewegen sich in einer Humusfläche vor einem bühnenbreiten Fadenwerk aus Wurzeln. Die Kostüme schillern zwischen Belle Époque und Neurokoko – bei Barbe & Doucet natürlich elegant und einen minimalen Kick zu erlesen. Licht (Guy Simard) und die sensible Wiederaufnahme-Regie (Florence Bas) kommen der Vorstellungsserie in Liège zugute. 

Der als Pelléas hochspezialisierte Lionel Lhote und der für Simon Keenslyde eingesprungene Alexandre Duhamel sind mit ihren sehr spezifischen Partien verwachsen sind, bringen deren männliche Krisis perfekt zum Ausdruck. Hochrangig, das wird aber von den drei Frauen noch getoppt. Die stille Intensität von Marion Lebègue leidender Mutter Geneviève prägt sich ein. Zur packenden Überraschung gerät, dass Judith Fa als Knabe Yniold den gleichen vokalen Farbreichtum hat wie die großartig gestaltende und singende Mélisande von Nina Minasyan. Beide sind Lichtstrahlen aus der Finsternis – trotz Trauma, Einsamkeit und Glücksdefiziten. 

Dieser Abend leuchtet also kraftvoll, vom vielbeschworenen Dauerdämmern Debussys hört man wenig. Dank Pierre Dumoussaud und dem in diesem Fach großartigen Orchestre der Opéra Royal. Dumoussaud hat seit der „Pelléas“-Einspielung aus Lille 2021 seine Stückkenntnis noch mehr verfeinert und perfektioniert. Das Orchester liefert ein intensives Farbspiel nach dem anderen, sensationell gerät die Abmischung mit dem Sekundenpart des Chors (Direktion: Denis Segond). Dumoussaud duldet keine scheue Deklamation, wie sie früher für diese Oper als stilaffin durchging. Er stellt mit Analyse und Musizierlust vereinender Verve in den Vordergrund, dass Debussy als Musikkritiker fast alle Neuschöpfungen für die Große Oper kannte. Gewiss reagierte das Publikum nach den einzelnen Akten eher verhalten – wie überall. Aber den Erfolg dieser Produktion kann man daran ermessen, dass einige höhere Schulklassen mit leuchtenden Augen und begeistert aus der Vorstellung kamen. Diese Überfülle des Dekors war gewiss ein Risiko, ging aber auf. „Pelléas et Mélisande“ als ein wie „Tristan“ delirierender Psychoschock geht ebenfalls, wenn man so brillant über die Rezepturen für den Rausch und temporäre Mäßigungen verfügt wie die Ensemble-Konstellation dieses Abends.

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