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Der Komponist Georg Friedrich Haas. Foto: Lucerne Festival, Priska Ketterer
Der Komponist Georg Friedrich Haas. Foto: Lucerne Festival, Priska Ketterer
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Umnachtet unter gescheiterten Utopien

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Georg Friedrich Haas’ Kammeroper „Nacht“ beim Lucerne Festival
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Der Österreicher Georg Friedrich Haas war dieses Jahr Gastkomponist am Lucerne Festival. Zum Abschluss kam als Koproduktion mit der Musikhochschule Basel und dem Gare du Nord seine Kammeroper „Nacht“ auf die Bühne.

Nacht hat bei Haas nichts Romantisches, auch nichts Unheimliches, sondern etwas Hoffnungsloses. Nacht ist Chiffre für den Verlust von Realität und das Scheitern von Utopien. Haas erlebte diese Gefühle in den 1990er-Jahren beim Zusammenbruch des Sozialismus und traf sie wieder in Texten von Hölderlin, in denen die gescheiterten Ideale der Französischen Revolution ihren Niederschlag fanden. In der Kammeroper „Nacht“, die 1996 in Bregenz uraufgeführt wurde, stellte Haas den desillusionierten Hölderlin ins Zentrum, der sich ins Verstummen und in den Wahnsinn flüchtete. Texte aus „Hyperion“, „Empedokles“, „Oedipus“ oder aus Briefen hat er in 24 teils ultrakurzen Szenen hinter- und manchmal übereinander montiert. Die sechs Sänger verkörpern nicht nur einen viergeteilten Hölderlin, sondern darüber hinaus zahlreiche weitere Rollen, womit auch der Verzicht auf jede nachvollziehbare Handlung einher geht.

Ohne immenses Vorwissen also verstrickt sich der Hörer sogleich in diesem Geflecht aus Texten. Eigentlich sollten laut dem Konzept von Haas die verschiedenen Personengruppen durch eine zugehörige Lichtfarbe gekennzeichnet werden, aber darauf hat die Inszenierung von Desirée Meiser, Leiterin des coproduzierenden Basler Bahnhofs für Neue Musik „Gare du Nord“, verzichtet. So lebt die Produktion optisch fast ausschliesslich von den reizvoll verfliessenden Bildern einer über der Bühne montierten Wärmebildkamera. Die Künstlerin Nives Widauer projiziert sie auf die Szene, wo sie als geisterhafte Wesen ein starkes szenisches Element bilden. Ruhender Pol in war der Dirigent Jürg Henneberger, der nicht nur die Übersicht bewahrte, sondern auch in der Dynamik und Balance mit wachen Sinnen die Fäden zog. Haas gruppiert das Orchester auf verschiedenen Positionen, auch um das Publikum herum. Dabei greifen die Musiker etwa zu Becken, Holzklötzchen oder mikrotonal verstimmten Streichinstrumenten, deren leere Saiten und Flageolett-Töne ein reizvolles Klangfarbenspektrum entfesseln, das typisch ist für Georg Friedrich Haas. Ein weiteres Kennzeichen seiner Musik ist eine ungenierte Suggestivität, die einen eindrucksvollen Sog entfesseln kann.

Dieser suggestive Zug war in Luzern etwa auch beim Instrumentalwerk «in vain» anzutreffen, wo Haas scheinbar endlose Kaskaden von Tonleitern aneinander reiht, die den Zuhörer mitnehmen in einen beispiellosen Abwärtsstrudel – oder auch Höhenflug. Dann wieder werden die Kräfte von Naturtonreihen beschworen oder Mikrointervalle ausgelotet bis hin zu Regionen, wo sie sich kaum noch von einem Vibrato unterscheiden. Es sind aber auch konkrete Inhalte, welche den 1953 geborenen Komponisten aus Graz, der seit sechs Jahren in Basel lebt und dort Komposition unterrichtet, zu seinen Stücken anregen. Zum Beispiel entstand „in vain“ im Jahr 2000 als Reaktion auf den Einzug der FPÖ in Österreichs Regierung. Und für sein neustes Streichquartett, das in Luzern vom Arditti-Quartett uraufgeführt wurde, waren die Ereignisse um das Erdbeben in Japan vom März dieses Jahres ein Schaffensantrieb für Haas, der mit einer Japanerin verheiratet ist. 

Darin erweiterte er den Klangraum durch die Möglichkeiten der Live-Elektronik. So findet Haas immer wieder zu neuen Ausdrucksbereichen und klanglichen Ausdrucksmitteln. Dass er zum Beispiel Musiktheater auch ganz stringent und hochdramatisch erzählen kann, zeigte das im April in Schwetzingen uraufgeführte Stück „Bluthaus“ in aller Deutlichkeit.

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