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Miljenko Turk, Statisterie der Oper Köln. Foto: © Sandra Then

Miljenko Turk, Statisterie der Oper Köln. Foto: © Sandra Then

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Uraufführung von Philipp Manourys „Die letzten Tage der Menschheit-Thinkspiel in zwei Teilen“ an der Oper Köln

Vorspann / Teaser

Komplett wurden „Die letzten Tage der Menschheit“ noch nie aufgeführt. Karl Kraus selbst hat seine „Tragödie in 5 Akten mit Vorspiel und Epilog“ von 1922 auf eine Dauer von 10 Theaterabenden geschätzt und sie halb ironisch einem künftigen Marstheater zugedacht. Aber soll man wirklich warten, bis Elon Musk den roten Planeten besiedelt und dort ein Festspielhaus errichtet?

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Zu bedrängend und zu aktuell erscheinen die 220 Szenen, in denen der Wiener Publizist, Satiriker und Sprachkünstler das Grauen und die Absurdität des Ersten Weltkriegs ausbreitet. Gemeinsam mit dem Dramaturgen Patrick Hahn und dem Regisseur Nicolas Stemann hat der französische Komponist Philipp Manoury (Jg. 1954) für die Oper Köln eine Musiktheater-Version erstellt.

Im Untertitel heißt Manourys Werk ein „Thinkspiel“. Die klangliche Assoziation zum Wort „Singspiel“ ist gewollt. Große Oper ist also nicht gemeint, sondern eine aufgelockerte Form des Musiktheaters mit fasslichen musikalischen Formen und eingestreuten Sprechdialogen. Kraus selbst beschrieb in seinem eigenen Vorwort als Inhalt der Tragödie die „in blutigem Traum verwahrten Jahre, da Operettenfiguren die Tragödie der Menschheit spielten.“ Er benannte außerdem klar den dokumentarischen Aspekt seines Konzeptes: „Die unwahrscheinlichsten Taten, die hier gemeldet werden, sind wirklich geschehen; ich habe gemalt, was sie nur taten. Die unwahrscheinlichsten Gespräche, die hier geführt werden, sind wörtlich gesprochen worden; die grellsten Erfindungen sind Zitate. Sätze, deren Wahnwitz unverlierbar dem Ohr eingeschrieben ist, wachsen zur Lebensmusik.“ Man erinnert sich vielleicht an das dokumentarische Theater Erwin Piscators in den 1920er Jahren, aber auch an den Dichter Bertolt Brecht, der seinerseits den Begriff „Singspiel“ 1927 mit Kurt Weill zum „Mahagonny-Songspiel“ verfremdete. Brecht strebte in der Folge nach einer Form des epischen Theaters, die das Publikum zum Denken nötigte und den Darstellern eine klare Distanz zu ihrer Rolle auferlegte – bis hin zu den ausdrücklichen sogenannten „Lehrstücken“. Dass die Geschichte, insbesondere diejenige des Ersten Weltkriegs, uns aktuell etwas lehren könnte oder sollte, ist offensichtlich auch eine Hoffnung der Kölner Opernmacher.

Der blanke Boden in seiner beachtlichen Weitläufigkeit

Im weiträumigen Saal 1 des Staatenhauses, Ausweichquartier seit Jahren, stellt die Kölner Oper eine eindrucksvolle Aufführung von fast dreieinhalb Stunden auf die Beine. Das Orchester ist auf drei Podien verteilt, das Publikum sitzt ihm gegenüber auf einer ansteigenden Tribüne. Sie ist so breit, dass man in der Mitte schon etwas Mühe hat, die seitlich angebrachten Übertitel zu lesen. Spielort ist der blanke Boden in seiner beachtlichen Weitläufigkeit; und zusätzlich ist das Orchester flankiert von Bildschirmen, auf denen Originalfotos, manchmal auch Filmausschnitte und Texte zu sehen sind. Der musikalische Aufwand ist beträchtlich: Sichtbar sind etwa 100 Instrumentalisten, dazu kommen elektronische Zuspielungen und Live-Elektronik, acht Sängerinnen,und sechs Sänger. Diese spielen und singen als einzelne hintereinander bis zu acht verschiedene Rollen, in der Regel in historischen Kostümen. Wandlungsfähigkeit und Beweglichkeit des Ensembles sind frappierend, ebenso das selbstverständliche Ineinandergreifen von Regie, Bühne (Katrin Nottrodt), medialer Inszenierung (Konrad Hempel, Claudia Lehmann), Lichtdesign (Elana Siberski) Kostümgestaltung (Tina Kloempken) und elektronischem Klangdesign (Ircam-Centre Pompidou, Paris). Bewundernswert ist, wie souverän bei allem Trubel Peter Rundel als Dirigent auf einem hohen Pult in der Mitte des Bühnenraums das Geschehen zusammenhält.

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Komplexe Video-Montage mit dem Schauspieler-Duo Patrycia Ziolkowska und Sebastian Blomberg. Foto: © Sandra Then

Komplexe Video-Montage mit dem Schauspieler-Duo Patrycia Ziolkowska und Sebastian Blomberg. Foto: © Sandra Then

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Streit von Nörgler und Optimist

Inspiriert von Karl Kraus’ Figuren des Nörglers und des Optimisten, gibt es im Ensemble zusätzlich ein Schauspieler-Paar, das durch die Handlung führt. Patrycia Ziolkowska und Sebastian Blomberg übernehmen zwischendurch verschiedene Figurenpaare, aber ihr wichtigster Part ist der sich durch das gesamte Stück ziehende Dialog zwischen zwei Beobachtern des Geschehens. Sie streiten immer wieder, bleiben aber im Streit zusammen. Durch ihr gewitztes Spiel gewinnen sie, wie der Schlussbeifall zeigt, die Herzen des Publikums, regen dabei aber auch immer wieder zum Denken an. In dieser Hinsicht zentral ist Tableau 2 im 2. Teil, eine dezent mit kristallinen Elektronik-Klängen unterlegte Szene, die bei Kraus nicht steht, sondern den gegenwärtigen Kontroversen abgelauscht ist. Hier entzweien sich Ziolkowska und Blomberg über Handlungsoptionen im aktuellen Ukraine-Krieg. In einer Mischung von Bitterkeit und Komik entfalten sie die fatale Aporien der Diskussion: Aufrüstung fördert den Krieg, Nichtstun fördert ihn aber auch, usw. - Wer weiß etwas Besseres? Bitte Nachdenken! Einen kurzen Moment lang scheint immerhin die Eskalation angehalten.

Tendenz zur großen Oper

Insgesamt neigt das Stück wohl stärker zur großen Oper als es dem Stoff gut tut. Auf breitem Raum entfaltet die Regie im 1. Teil das Kraus’sche Panorama des Krieges in einem Prolog und sich zuspitzenden fünf Akten unter den Überschriften; „Das Attentat“, „Kriegsbeginn“, „Kriegsspiele“, „Höllenberichte“, „Das Grauen“. Die Bühne wird multiperspektivisch genutzt, schnell fließt eine Szene in die nächste, Chor und Statisten fluten von einer Seite zur anderen, auf den Leinwänden erscheinen Zeitdokumente, Kommentare und Live-Bilder der Produktion. Kraus’ Dialoge, als solche eine erschreckende Melange von Naivität, Gleichgültigkeit, Zynismus und Fanatismus, werden ausführlich zitiert, aber oft von der Musik übertönt, die letztlich in der expressionistischen Tradition Alban Bergs steht. Mit weit ausgreifenden Intervallen spiegelt die gesangliche Diktion Nervosität und Verstörung der Handelnden, während das Orchester in verhangenen melodischen Phasen Gefühle von Trauer artikuliert; hier hört man Anklänge vor allem an Gustav Mahler heraus. Das Stilmittel der Karikatur durch Musik liegt Manoury fern; es findet keine Demaskierung der Figuren durch falsche Töne statt, wie man sie im 20. Jahrhundert bei Strawinsky, Hindemith, Weill oder Schostakowitsch finden kann. Von Operette, wie sie Kraus in den Sinn kam, findet sich keine Spur!

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Anne Sofie von Otters dritter Auftritt als Angelus Novus. Foto: © Sandra Then

Anne Sofie von Otters dritter Auftritt als Angelus Novus. Foto: © Sandra Then

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Dreimal lässt Manoury, begleitet von einem melancholischen Englischhorn, eine Figur namens Angelus Novus auftreten. Sie ist inspiriert von Paul Klees gleichnamigem Aquarellbild aus dem Jahr 1920 und von dem Kommentar Walter Benjamins zu diesem Bild aus dem Jahr 1940. In seinen „Geschichtsphilosophischen Thesen“ beschreibt der Autor den Engel: „Sein Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt“ Benjamin erkennt in ihm den Engel der Geschichte, der entsetzt auf die Katastrophen der Vergangenheit zurückblickt, während ihm der Fortschritt ins Gesicht weht: „Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst.“ Manoury hat aus zwei von Kraus’ Gedichten und einem Zitat dieses Benjamin-Textes einen Gesangspart für die inzwischen 70-jährige Sopranistin Anne Sofie von Otter geformt, die dreimal weißgekleidet wie eine düstere Prophetin aus dem Hintergrund hervortritt und ihn mit würdevollem Pathos vorträgt. Von dem Entsetzen, das Benjamins Beschreibung verrät, ist nicht wirklich etwas zu spüren; der 1. Teil bleibt auch hier erstaunlich bruchlos. Packende Szenen gibt es aber durchaus – und zumindest eine, die dank ihrer musikalischen Verdichtung einen nachhaltigen Eindruck hinterlässt. Manoury nennt sie „Passacaglia mit Variationen“ und entfaltet darüber die beängstigende Polyphonie des eskalierten Kriegsgeschehens: Alkoholisierte Siegesparolen im Hauptquartier, Klagen über die schlechte Versorgung der Soldaten, üble Nachrichten von der Front und als Krönung die zynische Predigt eines kriegsberauschten Militärgeistlichen sind ineinander verwoben.

Tendenz zum Gedankenspiel

Nach der Pause, mit dem 2. Teil, ändert sich die dramaturgische und musikalische Gestaltung. Er besteht aus einem instrumentalen Prolog und fünf Tableaus, die erstaunlich dicht am apokalyptischen 5. Akt von Kraus’ Tragödie bleiben. Auf die Dokumentation folgen nun Vision und Prophetie; eine eher geradlinige Entwicklung wird durch assoziative Collage und bewusste Brechung abgelöst. Einem erwartbaren Spannungsabfall begegnet Manoury mit einer räumlichen Klangstrategie. Das Orchester ist nun dreigeteilt auf einem mittigen Podium vor den Zuschauern und zwei seitlichen Podien dahinter; damit nimmt es das Publikum in die Zange. Über dem mittleren Podium befindet sich als erhöhtes Podium ein besteigbares metallisches Gerüst mit einem zusätzlichen Lautsprecher für Zuspielungen und Live-Elektronik, die beide von allen Seiten im Raum nun eine größere Rolle spielen. Auch die Szenenfolge wird zunächst schneller. Das 1. Tableau beinhaltet 10 „Erscheinungen“ (von „Die Raben“ bis „Die Mutter“) ganz ähnlich der Vorlage; nur der englischsprachige „Blues“ mit seinem Bezug zum Vietnam-Krieg und seinen dezenten Jazz-Anklängen ist offensichtlich eine Zutat. Der überraschend lakonische, fast kindliche Sprachstil geht erstaunlicherweise auch auf den Sprachvirtuosen Kraus zurück. Passagen wie „Einst war ich grün, jetzt bin ich alt, ich war ein Wald,“ entfalten dennoch ihre Wirkung; manches klingt wie Parolen auf Demonstrationen in noch recht naher Vergangenheit. Dramaturgisch ist das stimmig, denn der von Benjamin beschriebene Sturm der Zerstörung weht ja bis in die Gegenwart.

Tableau 1 führt über die anfangs geschilderte Diskussion (Tableau 2) zu einer Anklage gegen die Profiteure des Krieges (Tableau 3). Dieser folgt eine Invasion von gut informierten Außerirdischen (Tableau 4), die lächelnd auf die Kolonisierung der Erde verzichten und stattdessen das Strafgericht der Zerstörung vollziehen. Verbal und in ihrer strahlend weißen Astronautenkluft wirken die schon von Kraus heraufbeschworenen Gäste aus dem All wie eine Parodie auf irdische Raumfahrer-Figuren. Klanglich und im Video aber kracht die Welt zusammen, man sieht das Duo von Optimist und Nörgler gegen wankende Wände taumeln. Aus dem Dunkeln meldet sich die Stimme Gottes „Ich habe es nicht gewollt“, mit der Kraus Kaiser Wilhelm II. parodierte. Doch still und ernst beschließen oben vom Gerüst die ungeborenen Kinder die letzten Tage der Menschheit mit dem Gesang „Wir, der Untat späte Zeugen - Lasset nimmer uns entstehen …!“ Die Stimmung ist gedrückt, und man ist fast erleichtert, als das Team Ziolkowska / Blomberg doch wieder ganz lebendig um die Ecke linst. So sind wir am Ende dann doch nicht in der großen und tragischen Oper, sondern in einem „Thinkspiel“, einem Gedankenspiel, das auch anders ausgehen könnte.

Festzuhalten bleibt allemal: Zumindest diese letzte Aufführung der ambitionierten Produktion sorgt im altersmäßig gut durchmischten Publikum ordentlich für Gesprächsstoff.

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