Leo Blech war über Jahrzehnte hinweg eine wichtige Figur des deutschen Musiklebens, insbesondere in Berlin. Das Theater seiner Heimatstadt Aachen hat den vergessenen deutsch-jüdischen Dirigenten und Komponisten nun mit der Wiederherstellung seiner Ehrenmitgliedschaft und der lohnenden Wiederentdeckung seiner Oper „Alpenkönig und Menschenfeind“ geehrt.
In diesem Fall muss man zunächst über den Menschen sprechen. Leo Blech (1871–1958) gehört zu den großen Musikerpersönlichkeiten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Deutschland. In Aachen geboren entpuppte sich Blech bald als pianistisches und kompositorisches Wunderkind, machte aber erst eine kaufmännische Lehre, bevor er 1891 zum Studium nach Berlin an die Hochschule für Musik ging. Ein Jahr später brach er das Studium ab, komponierte im selben Jahr seine erste Oper „Aglala“, die nicht nur sogleich am Stadttheater Aachen angenommen wurde, sondern ihm auch eine Anstellung als Zweiter Kapellmeister einbrachte. Er stieg dort zum Ersten Kapellmeister auf und rundete seine kompositorische Ausbildung durch private Studien bei Engelbert Humperdinck in Frankfurt ab. 1899 folgte er dem Ruf nach Prag. Dort entstand 1903 seine fünfte Oper „Alpenkönig und Menschenfeind“ nach dem gleichnamigen romantischen Zauberspiel des österreichischen Volksdichters Ferdinand Raimund aus dem Jahr 1828. Die Uraufführung fand am 1. Oktober 1903 am Dresdner Hoftheater unter Ernst von Schuch statt.
Mit Berlin verband Leo Blech eine jahrzehntelange Dirigententätigkeit. 1906 hatte man den 35-Jährigen an die Königliche Oper geholt, wo er schon 1913 zum Generalmusikdirektor ernannt wurde. Dort blieb er bis zum Jahr 1937, als man ihn zwangsweise pensionierte. Blech gelang es, in Riga Erster Gastdirigent der Nationaloper zu werden. Vor der deutschen Besatzungsmacht konnte er 1941 von dort mit Hilfe des Generalintendanten Heinz Tietjen nach Schweden fliehen und an der Königlichen Hofoper in Stockholm weiter arbeiten. In Berlin blieb er über die Nazi-Zeit hinweg offensichtlich eine Dirigenten-Legende, und Tietjen gelang es, Blech 1949 zur Rückkehr bewegen, um das „arg zerzauste“ Orchester wieder aufzubauen.
Nicht nur als Dirigent, sondern auch als Komponist war Blech bis in die frühen 1920er Jahre durchaus erfolgreich. Danach scheint er das Komponieren aufgegeben zu haben; zu sehr war er anscheinend in der Musik des Fin de Siècle verwurzelt, die er auch als Dirigent pflegte. In Prag und Berlin dirigierte er Werke von Eugen d’Albert, Ferruccio Busoni, Richard Strauss und Franz Schreker. Dieser stilistische Hintergrund ist der Musik von „Alpenkönig und Menschenfeind“ durchaus anzumerken; auch Engelbert Humperdinck und Gustav Mahler kann man heraushören. Das Werk mit dem abfälligen Titel „Kapellmeistermusik“ als Kompilation des Gehörten und Dirigierten abzutun, greift allerdings zu kurz.
Wer jetzt in Aachen Strauss’ „Alpensinfonie“ heraushört, muss sich bewusst machen, dass diese erst 12 Jahre später uraufgeführt wurde. Es gibt sogar eine Szene, in deren nervöser Atonalität ein panikartiger Seelenzustand wie in Arnold Schönbergs 1909 entstandenem Monodram „Erwartung“ anklingt. Fortschrittlich ist auch der Umgang des Komponisten und seines Librettisten, des Prager Literaten Richard Batka, mit der literarischen Vorlage. Raimunds „Zauberspiel“ wird nicht nur dramaturgisch geschickt gestrafft, sondern auch aktualisiert. Die Zauberei des „Alpenkönigs“ erscheint nur noch sehr begrenzt märchenhaft; denn was die legendäre Berggestalt mit dem an Verfolgungswahn und Menschenhass leidenden Psychopathen Rappelkopf anstellt, könnte man mit dem Begriff „Kognitive Verhaltenstherapie“ bezeichnen. (Die treffende Bezeichnung verdanke ich der Rezension im Aachener Stadtmagazin „Klenkes“.) Rappelkopf (Paul Armin Edelmann) wird in die Gestalt seines Schwagers versetzt und muss sich in dieser Rolle sein eigenes Verhalten betrachten, das der Alpenkönig (Ronan Collett) ihm und seiner Familie in seiner eigenen Gestalt vorspielt.
Das ist – sieben Jahre, nachdem Sigmund Freund erstmals den Begriff „Psychoanalyse“ benutzte – am damaligen Puls der Zeit und auch heute noch spannend zu verfolgen. Nach der Behandlung verschwindet der Alpenkönig ohne großen Theaterdonner; ein guter Therapeut stellt sich eben nicht selbst in den Vordergrund. Zurück bleibt der geheilte Klient mit seiner teils erleichterten, teils ungläubigen Familie.
Musikalisch führt das zu einem überraschenden Rückzug vom Großorchestralen ins Kammerspielhafte; hier hätte man sich als Hörer eine sinfonische Abrundung gewünscht, nachdem vor der Pause noch ein gewaltiges Schwurduett, in dem der Alpenkönig sich scheinbar zum Komplizen der Vernichtungsfantasien seines Klienten macht, die dramatische Spannung gewaltig erhöht hatte.
Nicht verschweigen darf man die entlastenden Momente, die dem Hörer den Weg in die geographischen und seelischen Klüfte erleichtern. Leitmotivisch ist der Alpenkönig leicht zu erkennen und häufig zu hören. Gleich zu Beginn der Ouvertüre wird er durch eine sanfte Trompetenmelodie eingeführt, die einerseits Majestät, andererseits Philanthropie signalisiert. Einen leicht parodistischen Einschlag hat wohl die Eingangsszene mit Rappelkopfs Tochter Marthe (Netta Or) und der Dienerin Lieschen, (Anne-Aurore Cochet), in deren anspruchsvolle Sopranpartien immer wieder anscheinend landestypische Jodler eingearbeitet werden. Lieschen und der sie anschwärmende Habakuk haben miteinander ein witziges und ein sentimentales Operetten-Duett.
Insgesamt arbeiten GMD Christopher Ward und das Sinfonieorchester Aachen die verschiedenen Stilebenen der Musik plastisch heraus; es ist wirklich spannend, hörend der Partitur zu folgen. Regisseurin Ute M. Engelhardt, Ausstatterin Henriette Hübschmann und Choreograph Ken Bridgen setzen in ihrer Inszenierung nachvollziehbar auf Stilisierung. Insgesamt kommen die Szenen mit wenig Mobiliar aus; neben Eduard Joebges’ Lichteffekten sorgen Musik und Darstellung für Atmosphäre. Gut nachvollziehbar ist die äußere Ähnlichkeit von Alpenkönig und Rappelkopf, die ja – psychologisch betrachtet – tatsächlich zwei Facetten ein- und derselben Person darstellen. Auf der Handlungsebene bleibt das zumindest für Rappelkopfs Frau Sabine (Irina Popova) irritierend; die beiden jungen Paare, deren Vermählung nichts mehr im Weg steht, freunden sich dagegen schnell mit dem Happy End an.