Carl Maria von Webers Erstlingsoper am Uraufführungsort Freiberg. Peter P. Pachl ließ sich das nicht entgehen.
Seit 1952 ist an Deutschlands ältestem Stadttheater, dem Theater in Freiberg, eine Tafel angebracht, dass hier am 24. November 1800 die erste Oper Carl Maria von Webers uraufgeführt wurde. Der Titel der Oper des Vierzehnjährigen steht nicht mit auf der Tafel, und wer sie kennenlernen wollte, war auf Mutmaßungen der Exegeten und Biografen des „Freischütz“-Komponisten angewiesen. Denn „Das stumme Waldmädchen“ war, nach weiteren Aufführungen in Chemnitz, St. Petersburg, Wien und Prag, bereits zu Webers Lebzeiten verschollen.
Mit einer stummen, nur pantomimisch und tanzend agierenden Titelrolle in der Oper war der junge Weber der 1828 in Paris uraufgeführten Revolutionsoper „La Muette de Portici“ von Daniel-François-Esprit Auber um mehr als ein Vierteljahrhundert vorausgeeilt.
Erstaunlicherweise machte sich der Komponist, den das Thema des weiblichen Kaspar Hauser-Falles offenbar nicht losließ, zehn Jahre später auf ein neues Libretto (von Franz Carl Hiemer) an eine Neukomposition dieses Stoffes. Der Uraufführung der „Silvana“, 1810 in Frankfurt am Main, folgte zwei Jahre später in Berlin eine nochmalige Neufassung, u. a. mit zwei zusätzlichen, umfangreichen Arien.
Vom Librettisten der Urversion, Karl Guolfinger Ritter von Steinsberg, hatten sich nach seiner Tätigkeit am Theater in der Leopoldstadt in Wien die Spuren verloren. Der Theater-Impresario hatte aber eine Partitur von Webers Opernerstling mit nach St. Petersburg genommen. In der Zentralen Musikbibliothek der Direktion der kaiserlichen Theater, der nachmaligen Bibliothek des Mariinsky Theaters, lagerte diese, von der musikliebenden Öffentlichkeit unbeachtet, seit 1806 im historischen Bücherbestand. Vor fünf Jahren wurden im Mariinsky Theater Ausschnitte der Oper „Das Waldmädchen“, die 21 Nummern plus Ouvertüre umfasst, in einem Konzert vorgestellt. Das Jubiläum des 250-jährigen Bestehens der TU Bergakademie Freiberg und das 225-jährige Jubiläum des Theaters boten den Rahmen für die Wiederaufführung der hier kreierten Oper.
Ansprachen vor Beginn der Premiere, Intendant Ralf-Peter Schulze und ein in russischer Sprache und in deutscher Übersetzung verlesenes Grußwort von Valery Gergiev, jubelten das Ereignis entsprechend empor: „Das Auftauchen dieser Oper in Sankt Petersburg, ihre Erstaufführung im Jahre 1804 und die Aufbewahrung in den Archiven unserer Bibliothek spiegelt eine der grundlegenden Besonderheiten der russischen Theatergeschichte wider, nämlich die ständige Präsenz verschiedener deutscher Theatertruppen und Theaterunternehmen im russischen Hoftheatersystem“, heißt es beim russischen Dirigenten korrekt. Aber dessen Begründung, warum das Aufführungsmaterial Freiberg überlassen wurde, erscheint fragwürdig: „als Zeichen des tiefen Respekts vor den langen Traditionen der kulturellen und historischen Zusammenarbeit zwischen Russland und Deutschland sowie in dem Bemühen, die weitere Entwicklung dieser so wichtigen Traditionen zu unterstützen, überlässt die Direktion des Mariinsky Theaters dem deutschen Partner die einzigartigen Aufführungsmaterialien der Weber-Oper ‚Das (stumme) Waldmädchen’ für die Aufführung dieses Werkes am historischen Ort, auf der Bühne des Freiberger Stadttheaters“.
Ebenso fragwürdig erscheint die Entscheidung des Freiberger Theaters, welches unter der vorausgegangenen Intendanz von Ingolf Huhn für seine Ausgrabungen wiederholt auch mit optisch adäquaten Realisierungen aufgewartet hatte, „Das Waldmädchen“ – vor einem gemalten Bibliotheksprospekt – nur konzertant auf die Bühne zu bringen. Dass das Libretto der umfangreichen Dialoge nicht mehr erhalten ist, mag da als Argument wenig zählen. Denn auch die Dialoge von Webers „Silvana“ wurden für die jüngst erfolgte, treffliche Neueinspielung unter der musikalischen Leitung von Ulf Schirmer neu abgefasst (cpo 777 727-2).
Allerdings werden bei der Reduzierung auf die Konzertversion weniger Darsteller benötigt: neben einem mysteriösen, alten Höhlenbewohner, der die Zusammenhänge enthüllt, dass nämlich das Waldmädchen niemand anderes als die verstoßene Schwester der Fürstentochter Mathilde ist, auch die nur mimende Titelrolle.
In Webers Partitur verblüfft die sichere Beherrschung der klassischen Stilmittel und die gekonnt wirkungsvolle Instrumentation, insbesondere in den Szenen des Waldmädchens. Romantisches oder gar Webersches Idiom ist hier noch nicht zu hören, – sieht man davon ab, dass Weber den Hauptteil der Ouvertüre und das Thema der Silvana auch in seine spätere Oper übernommen hat. Die Ensemblegestaltung wirkt noch arg unbeholfen. Nur das erste Finale verlangt nach einem gemischten Chor, häufiger zum Einsatz kommt ein Männerchor „germanischer Recken“. Der in Freiberg achtköpfige Herrenchor wird dabei vom Solistenensemble geballt unterstützt.
Im ersten Teil des Abends klingt die Mittelsächsische Philharmonie, mit sechs ersten Violinen und differenzierten Bläsern, unter der engagierten Leitung von Raoul Grüneis durchaus sauber und auf hohem Niveau. Leider verliert sich die Intonationssicherheit im zweiten Akt, gegen Ende der Aufführung. Die arg konstruiert erscheinende Handlung, rund um einen inkognito mitwirkenden, feindlichen Sieger beim Turnier, Bärenjagd, Unwetter und Höhlenaufenthalt, wird von einem Sprecher (Oliver Niemeier) vermittelt.
Auf unterschiedlichem Niveau singen die Solisten. Miriam Alexandra hat mit den Koloraturen jener Arie, die als eines von zwei Fragmenten die Urversion belegt hatte, arg zu kämpfen, wird dafür aber vom dankbaren Publikum bejubelt. Uneingeschränkte Leistungen boten der Bariton Guido Kunze in der Stallmeisterrolle des Konrad Wizlingo und der als Fürst Hertor zitternd und bebend am Klavierauszug und am Dirigenten-Monitor hängende Heldentenor Markus Ahme. Daneben aber eine Reihe von stimmlich und intonationsmäßig inakzeptablen Leistungen.
Dennoch wurde die Heimkehr des Waldmädchens nach Freiberg am Ende mit rhythmischem Applaus und Standing Ovations für alle Beteiligten gefeiert.
- Weitere Aufführungen: 5.12. (Döbeln), 18., 19. 12. 2015 (Freiberg).