Hauptrubrik
Banner Full-Size

Von den Notwendigkeiten im Reich der Freiheit

Untertitel
Die musikFabrik auf Improvisationsfüßen: „Tiere sitzen nicht“ von Enno Poppe und Wolfgang Heininger
Publikationsdatum
Body

Köln, im November – fünfzehn Spezialisten hören auf, Spezialisten zu sein. Ein Solistenensemble absolviert auf offener Bühne eine Gruppenimprovisation. Was ist das? Leichtsinn oder Tribut an verschüttete Gemeinschafts-Sehnsüchte? Ein Drahtseilakt? Eine Selbsterfahrung? Ein Zeichen von Midlifecrisis? – So viele Fragen.

„Tiere sitzen nicht“ titelte das Komponistenduo Poppe/Heininger hireichend kryptisch. Nur, wenn sie nicht sitzen, was tun sie dann? Antwort: Sie laufen herum – auf der Bühne des Klaus-von-Bismarck-Saals nämlich. Immerhin hatte sich das Hausensemble des Westdeutschen Rundfunks nicht nur ein Improvisations­modell schreiben, sondern sich zudem dazu überreden lassen, auf feste Spiel­positionen zu verzichten. So hub es denn an – das Bäumchen-Wechsel-Dich-Spiel im Kölner Funkhaus des WDR. Augenmusik, wie sie im Buche steht! Und amüsant allemal, wenn sich aus dem anarchisch hingewürfelten Haufen der eine oder andere Spieler urplötzlich in Marsch setzte, um sich im Gestrüpp der herumliegenden, übereinandergetürmten „200 Instrumente“ eine neue Position zu suchen. „Ja, wo laufen sie denn?“, wollte man dann mit Loriot hinterherrufen. Wo laufen sie denn hin?

Was klingt, wer es wie und wo zum Klingen bringt – all dies verwandelt sich in „Tiere sitzen nicht“ wie von Zauberhand in Szene. Enno Poppe, gemeinsam mit Wolfgang Heininger als Improvisationshilfe, als arrangierender Klangberater verpflichtet, hatte es schon zu Projektbeginn vor einem Jahr vorausgesehen: „Der Aufbau der Instrumente ist wie eine Art Bühnenbild. Die Musik ist wie ein Theaterstück.“ So ist es gekommen. Nur, wenn aus dem Podium eine Bühne, wenn aus dem Konzert ein Theater, wenn aus Spielern Schauspieler werden sollen – woher weiß ich dann als braver Instrumentalist, was ich zu tun habe, vor allem aber wie?

Gehen zum Beispiel. Mehr als einmal durfte man schmunzeln, wenn ein Musikfabrikler von A nach B strebte, als hätte sie oder er einen Besen verschluckt. Hoffentlich sieht mich keiner! So war man an diesem Abend unterwegs als gälte es ein lebendes Bilderrätsel abzugeben für den bekannten Subtext: 15 Instrumentalisten suchen einen Regisseur. Denn ausgerechnet den gab es nicht, was bei soviel grenzensprengender Aktion, soviel Mäandern in den Nachbarkünsten schon erstaunlich war.
Andererseits: Im Selbstverständnis der musikfabrik ist diese Gruppenimprovisation „ein bisher einmaliges Unterfangen“: nichtdirigiert, nichtkomponiert, choreografiert, selbstkoordiniert, improvisiert. Ein Großexperiment, in dem tatsächlich so gut wie alles zur Disposition steht.

Entsprechend wurden im Vorfeld große Worte bemüht. Es gelte, die „strikte Trennung von Komposition und Interpretation aufzubrechen“. Dabei hatte man von einem vorangegangenen Leidensdruck gar nichts mitbekommen, wonach der böse Herr Komponist dem Interpreten-Knecht seine Noten diktiert. In diesem Fall müsste man sich allerdings einreihen: Wider die Unterdrücker! Alle Macht den Räten! Tiere sitzen nicht!

Davon konnte nun allerdings keine Rede sein. Kein Revolutionsstück wurde in Köln gegeben. Vielmehr: Mit der Bereitschaft, alles auf die improvisatorische Karte zu setzen, mag das Ensemble zwar einen Schritt ins (so der alte Marx) Reich der Freiheit getan haben. Das Reich der Notwendigkeit aber war damit keineswegs abgeschafft, heißt Improvisation doch eben nicht nur: Ballast abwerfen, vermeintliche Hierarchien „aufbrechen“. Der von Poppe/Heininger entworfene abendfüllende Ablaufplan konfrontierte im Gegenteil jeden Einzelnen mit neuen, ungeahnten Anforderungen. Wahrscheinlich war man im Ensemble selber am meisten überrascht, dass sich die gewohnte Geschlossenheit und Ausgewogenheit der Ausführung plötzlich nicht herstellen wollte. Kunststück: Improvisation – soviel bestätigte dieser Selbsterfahrungs­abend einmal mehr – ist ein Fruchtland, das von den Pflügen der Neuen Musik nicht oder nur stiefmütterlich bestellt wird.

Nicht umsonst waren es auch anderswo sich tummelnde Musiker wie Blechbläser Bruce Collings oder Perkussionist Dirk Rothbrust, die die gestellte Aufgabe mit Lust und Leidenschaft angingen. Vor allem Rothbrust zeigte in seinen groovenden Soli, was eine feuerspeiende Schlagzeugharke ist.

Ansonsten, bei allem Respekt vor dem Mut des Ensembles, einen neuen Weg auszuprobieren – eine Erkenntnis gälte es künftig in jedem Fall zu beherzigen: Auch wenn „Tiere nicht sitzen“, haben sie mitunter manche Längen.

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!