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Filippo Bettoschi (Prospero), im Hintergrund Gina Lisa Maiwald (Sycorax). Foto: © Sylwester Pawliczek

Filippo Bettoschi (Prospero), im Hintergrund Gina Lisa Maiwald (Sycorax). Foto: © Sylwester Pawliczek

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Weibliche Winkelzüge hinter Prosperos Rücken – „The Tempest“ am Staatstheater Kassel

Vorspann / Teaser

Das Staatstheater Kassel nimmt sich nach Lübeck als zweites deutsches Haus jenseits der großen Musikstädte der dreiaktigen Oper „The Tempest“ von Thomas Adès nach Shakespeares „Der Sturm“ an. Eine großformatige zeitgenössische Oper braucht eben vor allem Leidenschaft und Überzeugung. Kassels Intendant Florian Lutz besitzt beides. Er hat das Berliner Musiktheaterkollektiv HAUEN UND STECHEN mit der Realisation beauftragt, das die Ehrfurcht des Komponisten vor Shakespeare mit jugendlichem Schwung ausgleicht.

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Nach seinem rotzfrechen Opernerstling „Powder Her Face“ schlug Thomas Adès’ 2004 die Kehrtwende ein. Im Auftrag des Royal Opera House seiner Heimatstadt London näherte er sich mit „The Tempest“ dem Nationalheiligtum der Engländer: William Shakespeare. Vergessen der Flirt mit der Popkultur, mit allem Schlüpfrigen, auch und gerade in musikalischer Hinsicht. Bei Shakespeare wird es für einen Engländer ernst, zumal im ersten Haus am Platz. Kurz und gut: Mit „The Tempest“ streckte sich ein vormalig junger Wilder nach dem Establishment. 

Man darf der Oper zugutehalten, dass der Text von Meredith Oakes an heutige Sprachgewohnheiten angepasst wurde und dass die Partitur zu den interessantesten des 21. Jahrhunderts gehört. Trotz ihrer Vielseitigkeit zwischen rumpelnder Polymetrik und samtenem Streicherklang wird sie strukturell auf kluge, wenn auch hörend kaum nachvollziehbare Weise zusammengehalten (Adès gründet das Werk auf Zentralintervallen, die einzelnen Personen zugeordnet sind). Die Musik besticht mit exquisiter Klangfantasie, etwa in der klirrenden Spieldosenmusik im 2. Akt, dem tiefen Blechbläserchoral, als die neue Ordnung der Insel verkündet wird, oder im völlig entrückten Schluss – dem einzigen Moment übrigens, in dem die Inszenierung des Berliner Musiktheaterkollektivs rund um die Regisseurin Julia Lwowski die Musik ernst nimmt.

Auf der Bühne ergänzen gleich mehrere Screens das überbordende, mit popkulturellen Zitaten prunkende Geschehen (Miranda erscheint als Wednesday, Ariel als Clown Pennywise). Livefilme von der Bühne wechseln sich nahtlos mit vorproduzierten Videos ab (Martin Mallon). Zwei Korrekturen des Kollektivs fallen ins Gewicht. Die kolonialistische Haltung – der Mailänder Prospero unterwirft sich die vom Indigenen Caliban regierte Insel – wird zwar schon 1611 in Shakespeares Theaterstück thematisiert, aber für historisch informierte Theatermacher natürlich nicht ausreichend hinterfragt. HAUEN UND STECHEN kontextualisieren das Setting mit Videos, die gleichzeitig von der rätselhaften Schönheit der Schöpfung Erde wie vom gewalttätigen Verhalten der Menschheit erzählen. „Hell is empty, all the devils here“, heißt es zu Beginn der Handlung. Der Kolonialismus als Anfang der Selbstzerstörung? Kann man so sehen. 

Der zweite Einspruch betrifft die Opernerzählung als Ganze. Die Regisseurin zerrt Sycorax hervor, die Mutter Calibans, und vergrößert sie zu einer Drahtzieherin, deren weibliche Winkelzüge selbst Prospero in seine Schranken weisen. Durch die Rahmenhandlung geistert die Schauspielerin Gina-Lisa Maiwald, ebenfalls Mitglied des Kollektivs, mal aufgedonnerte Fernsehmoderatorin, mal Hexe, immer mit einem Bein in der Improvisation, immer präzise, immer witzig. Maiwalds Fähigkeiten sind so stark, dass die Regisseurin es sich erlauben kann, ihren eigenen Ansatz zu verspotten, indem sie seine esoterische Kehrseite entlarvt. 

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Filippo Bettoschi (links, Prospero) und Statisterie. Foto: © Sylwester Pawliczek

Filippo Bettoschi (links, Prospero) und Statisterie. Foto: © Sylwester Pawliczek

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Die Premiere am 17. Mai im Staatstheater ist nur lückenhaft besucht. Die gekommen sind, bleiben bei der Stange und erleben einen schnellen und bilderstarken Theaterabend, der nie geizt und dem man allenfalls vorwerfen kann, dass er die von Marco Comin in den leuchtendsten Farben dirigierte Musik an den Rand drückt, auch durch Absenken des Orchestergrabens. Dass dadurch die Stimmen zumindest am Anfang zu laut sind, macht andererseits deutlich, dass in Kassel hervorragend gesungen wird. Die mörderische Partie des Ariels liegt in der Kehle der Koloratursopranistin Marie-Dominique Rychmanns, die vor drei Jahren noch an der Opernakademie der Hamburgischen Staatsoper ihre Ausbildung vervollkommnete und seither zum Kasseler Ensemble gehört. Die Spitzentöne dieser Partie – obzwar kurz vor dem Kreischen angesiedelt – werden von ihr mit Treffsicherheit und Musikalität realisiert. Eine Meisterleistung. Bei Shakespeare kommt Caliban nicht durchweg gut weg; Thomas Adès hingegen schreibt ihm die wunderschönsten Kantilenen in die tenoralen Stimmbänder; Johannes Strauß singt sie mit Hingabe und Wärme. Kassel kann es sich leisten, die Solisten seines Ensembles durch Opernmitglieder zu verstärken, was für den von Marco Zeiser Celesti geleiteten Chor spricht. Hier verkörpern Seong Ho Kim die Partie des Antonio und Lars Rühl den König von Neapel, der nicht nur ausgezeichnet singt, sondern auch ein zum Brüllen komisches Double des ehemaligen hessischen Ministerpräsidenten Volker Bouffier mimt.

„The Tempest“ von Thomas Adès – das wird im Staatstheater deutlich – gehört musikalisch in die Reihe der großen Shakespeare-Adaptionen von Verdi bis zu Müller/Rihms „Hamletmaschine“ (beides stand auch in Kassel auf dem Spielplan). Die Musik hat mehr Vertrauen verdient, als ihr Kassel entgegenbringt, das Theater mehr durch das ansässige Publikum. In der nächsten Spielzeit zieht das Theater renovierungsbedingt um. Das Jahresprogramm für die erste Interimsspielzeit wurde vor zwei Wochen veröffentlicht und verspricht weiterhin viel Aufregendes auf Nordhessens Bühne. 

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