Santander ist ein Hafenort an der nördlichen spanischen Atlantikküste mit 200.000 Einwohnern und einem diese Dimensionen weit sprengenden Festival-Palast, der gleichwohl nachhaltig von der Bevölkerung frequentiert wird. Es ist eine kulturträchtige Gegend, unweit des Ortes liegt die Höhle Altamira mit 15.000 Jahre alten, eindrucksvollen Felszeichnungen. Es ist, als wirke dieser kulturelle Geist fort, als durchdringe er die Landschaft.
Dort findet im Abstand von zwei beziehungsweise drei Jahren eine der größten internationalen Klavierwettbewerbe statt. Der Wettbewerb geizt nicht und offensichtlich muss er das auch nicht. Kapital aus einer für Spanien typischen und diesen Zweck glücklichen Verbindung von spanischem Hochadel und industriellen Global Players sichert das Geschehen. Eine handverlesene Jury wurde berufen, darunter Antoni Ros Marbà (als Vorsitzender), Paul Myers, Dimitri Bashkirow, Ralph Gothoni, Meneham Pressler, Maria Tipo oder der Musikjournalist Peter Cossé. Die zwanzig teilweise schon hoch dekorierten Pianisten wurden über Auslese-Wettbewerbe in Paris, London, New York, Madrid und Moskau ermittelt. Den Kammermusikwertungen stand das französische Ysaÿe-Quartett zur Seite, für die Konzertprogramme konnte man das London Symphony Orchestra unter der Leitung von Rafael Frühbeck de Burgos verpflichten. An Geldpreisen waren 33.000 Euro für die Goldmedaille, 22.000 Euro für den zweiten Platz und 15.000 Euro für den Dritten vorgesehen, zwölftausend Euro standen von Sony für den Publikumspreis zur Verfügung. All dies sind Rahmenbedingungen, die Niveau auf allen Ebenen absichert. Andere Wettbewerbe können von solchen Voraussetzungen nur träumen.
Musikwettbewerbe sind schwer. Ein Leben mit den Versuchen, zur weltweit anerkannten Virtuosenriege zu gehören, ist noch weit schwerer. Blickt man auf die Preisträger-Liste selbst der größten Klavierwettbewerbe der letzten zehn oder zwanzig Jahre, dann wird man erstaunt vermerken, dass viele der mit (Vorschuss-) Lorbeer und besten Wünschen ins Leben Entlassenen längst schon wieder von der Bildfläche verschwunden sind. Auf der anderen Seite gibt es überragende Pianisten, vielleicht wäre auf Olli Mustonen zu verweisen, die bei großen Wettbewerben kaum in Erscheinung traten und sich ihren Platz im Musikleben auf andere Wege sicherten. Trotz solcher wenig verheißungsvoller Vorgaben gelten Klavierwettbewerbe immer noch als profunde Durchlauferhitzer für große pianistische Laufbahnen. Und diese antworten auf die Härte des Lebens ihrerseits durch Verschärfungen.
Eine Facette davon ist, dass Jurys, die etwas auf sich halten, mit der Vergabe von Spitzenpreisen immer knausriger werden. Die Angst des Jurors vor dem ersten Preis gleicht einem Rückzugsgefecht: Man möchte sich gegenüber den Fährnissen des Musikbetriebs ein Hintertürchen offen lassen, zugleich weiß man über die Schwachstellen der Wettbewerbe bescheid. Das sind das einer ehrlichen Wertung widerstrebende Gerangel um ästhetische Schulen oder Lehrmeinungen und die Erkenntnis, dass die Auswahlkriterien spürbar Alterungsprozessen unterworfen sind. Die Individualität der Musiker wird von der punktebringenden Bewältigung etwa eines Liszt oder Rachmaninoff nicht selten verdeckt. Innerhalb dieses Umfelds hat es der nach seiner Gründerin und Mäzenatin Paloma O’Shea benannte, jetzt zum 14. Male ausgetragene Klavierwettbewerb geschafft, sich im Kreise der weltweit bedeutendsten Wettbewerbe (neben zum Beispiel den Wettbewerben in Moskau, Warschau, Brüssel, Bozen oder der Van Cliburn-Competition in Fort Worth) zu etablieren. Was von hier kommt hat Gewicht. Und das hat sich der Wettbewerb in Santander in den dreißig Jahren seines Bestehens durch exorbitanten Aufwand redlich erkämpft.
Haben wir nun also einen neuen Pianisten, der Geschichte schreiben wird? Die Jury zeigte sich bedeckt, wollte diesmal keinen ersten Preis vergeben (unter Protest des Publikums). Sieger mit einem zweiten Preis wurde der 18-jährige in Russland geborene Israeli Boris Giltburg, dritte Preise gingen an Soyeon Lee aus Korea und an den in den USA lebenden Chinesen Ning An. Giltburg erhielt in Übereinstimmung zur Jury auch den Publikumspreis. Er hatte sich in der Zwischenausscheidung bei Beethovens zweitem Klavierkonzert den Super-Gau eines Aussetzers geleistet, was wohl mitverantwortlich für die Verweigerung der Goldmedaille war (abgesehen davon, dass bei einzelnen Etappen immer wieder schwankende Qualität der einzelnen Ausführenden zu vermerken war). Aber seine Darbietung des 3. Klavierkonzerts von Belá Bartók im Finale war fraglos ein exorbitantes musikalisches Ereignis. Giltburg ist ein von Musik Besessener. Die Technik der Finalisten vermochte durchweg zu verblüffen. Allen war von den Lehrern eingeschärft worden, wie elementar Artikulation und Präsenz beim Wettbewerb ausschlaggebend sein würde. Die Jury hob denn auch die außerordentlichen musikalischen Fähigkeiten der Finalisten hervor und vermisste das Genie (das einen ersten Preis rechtfertigen würde). Freilich stehen die Bedingungen eines Wettbewerbs einem wie auch immer zu definierenden Genie-Begriff ohnehin im Wege. Dennoch ließ das Spiel von Giltburg (Jahrgang 1984, er war fast der Jüngste des Wettbewerbs) viel von Eigenwilligkeit der Gestaltung und von elementarer Musikalität und Impulsivität ahnen. Da ist ein junger Musiker, der auf neue Art in den Klavierklang hineinhört, der den Bartók’schen Dissonanzen mit geradezu präziser Nachdrücklichkeit nachlauschte und sie wie Gespinste aus einer anderen Welt zum Klingen brachte. So hat der Wettbewerb doch wieder erbracht, was man schon immer von Wettbewerben forderte: Ein Musiker wurde entdeckt, auf den man in Zukunft hören wird, ja hören muss. Er ist noch sehr jung, aber er besitzt Wachheit wie unbedingte, konzentrierte Emphase. Nichts, so ist zu vermuten, dürfte ihn von seinem künstlerischen Weg ablenken.