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Wo sich Tell und Rihm die Hände reichen

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Das Luzerner Osterfestival zwischen Tradition und Aufbruch
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Wilhelm Tell ist nicht weit und Richard Wagner auch nicht, der unweit von Luzern in Tribschen residierte. Daraus hat die Stadt, für die der Fremdenverkehr bereits seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts eine große Bedeutung besitzt, immer wieder Kapital geschlagen. Unweit am Vierwaldstätter See befindet sich, durch einen steilen Fußmarsch erreichbar, die Tell-Kapelle und findet sich auch das Richard-Wagner-Museum mit seiner reizvollen Instrumentensammlung. Wer von der Natur so reichhaltig belohnt wurde, wie die größte Stadt der Zentralschweiz, die in jeder schweizerischen Schokoladenwerbung Platz finden könnte, hat es eigentlich nicht nötig, risikoreiches Neuland zu betreten.

Wilhelm Tell ist nicht weit und Richard Wagner auch nicht, der unweit von Luzern in Tribschen residierte. Daraus hat die Stadt, für die der Fremdenverkehr bereits seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts eine große Bedeutung besitzt, immer wieder Kapital geschlagen. Unweit am Vierwaldstätter See befindet sich, durch einen steilen Fußmarsch erreichbar, die Tell-Kapelle und findet sich auch das Richard-Wagner-Museum mit seiner reizvollen Instrumentensammlung. Wer von der Natur so reichhaltig belohnt wurde, wie die größte Stadt der Zentralschweiz, die in jeder schweizerischen Schokoladenwerbung Platz finden könnte, hat es eigentlich nicht nötig, risikoreiches Neuland zu betreten.Vielleicht gehört es aber gerade zum Erfolgsgeheimnis dieser von den Intellektuellen des Auslands oftmals so belächelten Schweiz, dass sie und ihre Einwohner sich eben gerade nicht so verhalten, wie man es von ihnen erwartet. Da existieren in Luzern seit über sechzig Jahren Musikfestwochen – von Toscanini aus der Taufe gehoben, etablierten sie sich bald als Zufluchtsort vieler vom Faschismus vertriebener Künstler – doch dies ist den Verantwortlichen nicht genug. 1988 werden Osterfestspiele aus der Taufe gehoben und zehn Jahre später folgt das Lucerne Piano Festival. Der Intendant Michael Haefliger legt Wert auf inhaltlichen Tiefgang der Programmstrukturen, erarbeitet thematische Leitfäden und sichert der zeitgenössischen Moderne einen festen Platz im Festivalablauf.

Der Erfolg auf künstlerischem und finanziellem Parkett gibt ihm Recht. Die mit eineinhalb Millionen Franken komfortabel ausgestatteten Osterfestspiele erwirtschaften durch den Kartenverkauf sechzig Prozent der Kosten. Lediglich drei Prozent übernehmen staatliche Stellen, der Rest entfällt auf Sponsorengelder.

Was liegt in der Zeit vor Ostern näher, als die großen Passionswerke vor ergriffenem Publikum in Szene zu setzen. So geschehen im zweiten Chorkonzert bei der Aufführung der Bach’schen Matthäuspassion mit dem Orchestra of the Age of Enlightment unter Roger Norrington in der luzerner Jesuitenkirche. Freilich eingerahmt von zwei mehr als ambitionierten Vorhaben, die Bach und den österlichen Bibeltext mit der Gegenwart konfrontieren. Am Vorabend setzt Peter Sellars zwei Kantaten des großen Leipziger Meisters („Mein Herze schwimmt im Blut“ BWV 199 und „Ich habe genug“ BWV 82) in Szene; einen Tag später erleben „Deus Passus“, Passions- Stücke nach Lukas, von Wolfgang Rihm ihre Schweizer Erstaufführung.

Die Gächinger Kantorei und das Bach-Collegium Stuttgart unter Helmuth Rilling haben dieses Werk bereits bei der Uraufführung vor einem Jahr in Stuttgart realisiert, und man spürt bei der makellosen Wiedergabe im Luzerner Konzertsaal, dass der Dirigent und die mustergültig agierenden Solisten, allen voran Juliane Banse (Sopran), Ruth Sandhoff (Mezzosopran), Annette Markert (Alt) und Thomas Cooley (Tenor), die Herausforderungen der Rihm’schen Musiksprache souverän verinnerlicht haben. Dieses Werk des fast fünfzigjährigen Komponisten hat sich wie kein zweites seines Œuvres der Tradition in doppelter Hinsicht gestellt. Wer sich nach Bach mit den Texten der biblischen Passionserzählungen beschäftigt, steht mehr als jeder andere im vergleichenden Beurteilungswettbewerb. Mit „Deus Passus“ gelingt es Rihm, die im Leiden Chrtisti exemplarisch hervorgehobene Botschaft des Christentums so neu zu interpretieren, dass die Kraft seiner Musik eine neue Qualität der Verinnerlichung leistet, die den Zuhörer zum aktiven Subjekt des Erlebens macht.

Auch wenn es sich bei der durch den Komponisten vorgenommenen Textauswahl nicht um eine vollständige Passion handelt, fehlt keines der wesentlichen Elemente, finden wir chorische Turbae, die Volks- und Massenszenen ebenso wie die Individualität des Sologesangs. Rihm hat einmal mehr bewiesen, dass Tradition und Gegenwart keine Gegensatzpaare zeitgenössischen Musikschaffens sein müssen.

Dass die Aufführung für Komponist und Ensemble zu einem glänzenden Erfolg wurde, lag nicht zuletzt an der überwältigenden Akustik des 1998 der Öffentlichkeit übergebenen Konzertsaals, der mit seinen 1.840 Sitzplätzen das Kernstück des vom Franzosen Jean Nouvel entworfenen KKL-Zentrums bildet.

Das Lucerne Festival im Sommer 2001 beschäftigt sich vom 15. August bis 15. September mit dem Schöpfungsmythos und seinen Auswirkungen auf die Musik. Der Amerikaner Elliot Carter und der Schweizer Komponist Hanspeter Kyburz werden als Composer in Residence, Anne-Sophie Mutter als Artiste Étoile und Isaac Stern als Leiter der Meisterkurse teilnehmen. Dass Claudio Abbado nach seinem Ausscheiden in Berlin einen eigenen Klangkörper für Luzern ins Leben rufen wird, fügt sich wie ein schimmernder Schlussstein in dieses musikalische Mosaik der Spitzenklasse.

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