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Zwanghafte Überfüllung des Klangraumes

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Eindrücke vom Kieler Festival für Neue Musik „chiffren“ 2014
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Die „kieler tage für neue musik“, das derzeit alle zwei Jahre stattfindende Festival des Kieler Vereins „chiffren“, boten schon immer ambitionierte Programme. In diesem Jahr aber ist Festivalleiter Friedrich Wedell ein besonderer Coup gelungen: Das Kölner Ensemble „musikFabrik“ gastierte mit der europäischen Erstaufführung eines Werks von Harry Partch.

Nach dem großen Erfolg mit Partchs Musiktheaterwerk „Delusion of the Fury“ bei der letzten Ruhr-Triennale bauten die Musiker Partchs mikrotonales Spezialinstrumentarium nun in Kiel auf: Das „Chromelodeon“ etwa, ein speziell gestimmtes Harmonium, die haushohe „Kithara“ oder die „Marimba Eroica“ mit ihren meterlangen Klangstäben. „And on the Seventh Day Petals Fell in Petaluma“ steht in engem Zusammenhang mit „Delusion of the Fury“, denn die 34 Stücke von jeweils rund einer Minute Spieldauer gingen später allesamt in das Musiktheaterwerk ein. Und doch bilden sie ein Werkganzes aus eigenem Recht: Es ist die einzige Komposition von Partch, die nicht textgebunden und sprachgezeugt ist. Der Titel verweist auf Harry Partchs Studio im kalifornischen Ort Petaluma, und in der Tat gewährt die systematische Anordnung der Stücke einen Einblick in die Werkstatt des Komponisten:  Es beginnt mit einer Reihe von Duos und Trios, die dann, übereinandergeschichtet, Quartette, Quintette und zum Schluss ein fulminantes Septett ergeben.

In der Pause konnte man auf der Empore des Saals einige der „Player Piano Studies“ von Conlon Nancarrow erleben, und im zweiten Teil des Konzerts präsentierte sich musikFabrik mit Neuarrangements einiger Frank-Zappa-Titel – um einiges rockiger und näher am Original als die Bearbeitungen, die in den 80er- und 90er-Jahren den klassischen Konzertsaal eroberten.

Partch, Nancarrow, Zappa – drei große Querköpfe der Musik des 20. Jahrhunderts und damit ideale Verkörperungen des Festivalmottos „paints and brushes“. Das Motto ist bei Harry Partch entlehnt, aber es lässt sich auf die unterschiedlichsten kompositorischen Handschriften übertragen. „Paints“, die Farben, im handwerklichen Sinne, die Farbtöpfe – das sind, so formulierte es Festivalleiter Friedrich Wedell, die Materialien; und die „brushes“, die Bürsten und Pinsel, das sind die kompositorischen Verfahren, mit denen sie bearbeitet werden.

Die Unverkennbarkeit hochgradig individueller kompositorischer Handschriften: Das war eine Leitlinie des Programms. In diesem Zusammenhang wäre der hierzulande kaum bekannte dänische Komponist Gunnar Berg (1909–1989) zu erwähnen, den Steffen Schleiermacher in seinem Klavier-Recital vorstellte. Berg war in den 50er-Jahren einer der wenigen skandinavischen Teilnehmer der „Darmstädter Ferienkurse“. John Cage hat ihn offenbar dort kennengelernt, denn er bezog Gunnar Berg in sein 1969 erschienenes Buchprojekt „Notations“ ein. Schleiermachers Programm beleuchtete genau diese historischen Zusammenhänge: Neben Cage war auch Messiaen (bei dem Berg zeitweise studierte) vertreten. Die beiden Stücke aus Gunnar Bergs großem Klavierzyklus „Gaffky’s Assortiment“ erwiesen sich als echte Entdeckung. Serielle Musik, der ein Widerspruch, eine merkwürdige Spannung innezuwohnen scheint: Bei aller offenkundigen Dominanz des Struktiven lassen die Stücke dennoch eindeutige Ausdruckscharaktere und sogar flüchtige Anklänge an traditionelle musikalische Gesten erkennen.

Dieses Konzert war gleichsam eine Reise in die Vergangenheit – Bergs Klavierzyklus entstand bereits 1958. Ein zeitgemäßer Umgang mit musikalischer Tradition ist aber ohnehin ein zentrales Thema der Neuen Musik Skandinaviens: Sie ist, bedingt schon durch die geografische Lage, im Programm des Kieler Festivals stets prominent vertreten. Beispielsweise im Konzert der Athelas–Sinfonietta aus Kopenhagen, das von Pierre-André Valade dirigiert wurde. Pelle Gudmundsen-Holmgreens Kierkegård-Hommage „OG“ (der Titel beantwortet des Philosophen einschlägiges „Entweder-Oder“ mit einem schlichten  „og“ = „und“)  schichtet heterogene Materialien und Kompositionstechniken und lässt das bekannte „Là ci darem la mano“ aus Mozarts „Don Giovanni“ wie einen Cantus firmus allmählich aus dem musikalischen Geflecht heraustreten. Bent Sørensens Komposition „Minnelieder – Zweites Minnewater“ vermittelt die paradoxe Hörerfahrung, dass aus der hochkomplexen Verflechtung kanonischer Strukturen eine im traditionellen Sinne „gut klingende“, konkret bildhafte Assoziationen durchaus erlaubende Ensemblekomposition von irisierender Farbigkeit entsteht.

In eine ganz andere Richtung ging „defunensemble“ aus Helsinki. Die Musiker spielen ausschließlich Stücke, die in irgendeiner Weise Elektronik einbeziehen – vom Tonband über den Synthesizer bis zur komplex interaktiven Live-Elektronik. Für Sami Klemola, den Gitarristen und künstlerischen Leiter, bietet das vielfältige noch ungenutzte Möglichkeiten: Die Anregungen dazu findet er in allen denkbaren Subgenres der elektronischen und experimentellen Musik, Elektro-Pop ausdrücklich eingeschlossen. Seine eigene Komposition „Feed“ bewegt sich konsequent an der Grenze von Klang und Geräusch. Das vollimprovisierte E-Gitarren-Solo, die Klänge des Ensembles (Flöte, Klarinette, Harfe, Cello und Klavier) und die Elektronik, die vermeintlichen „Klangmüll“-Programmierfehler bei der Klangsynthese und die Sounds von Rauschgeneratoren – zur durchgehenden Tonspur verdichtet: Das alles ergibt eine zum Zerreißen hochgespannte Musik, deren Intensität auch jenseits der eruptiven Höhepunkte kaum nachlässt. „Feed“ bezeichnet hier die durchaus zwanghafte Überfüllung des Klang-raumes, einen Vorgang von beträchtlicher Aggressivität: zeitgemäßes akustisches Signet eines Lebens unter permanentem Druck. Doch auch die artifiziellen Sounds von Perttu Haapanens Ensemblestück „Doll Garden“, oder „Oog“ von Michel van der Aa, eine seiner beklemmenden Studien über Selbstentfremdung (hier für Cello und Tonband), machten Eindruck.

Insgesamt ein sehr starkes, konzentriertes Programm, das auch überregional größere Aufmerksamkeit verdient hätte. Ein Programm auch, das nicht zum Nulltarif zu haben ist; allein schon der logistische Aufwand war beträchtlich. Für ihr diesjähriges Festival mussten die „chiffren“ deshalb den regulären Jahresetat anzapfen, mit dem die übrigen Projekte finanziert werden. Dazu zählen das Landesjugendensemble Neue Musik und die vielfältigen musikpädagogischen Aktivitäten, und natürlich das „chiffren“-Büro, das mit gerade einmal zwei festen Mitarbeitern – nämlich dem Festivalleiter Friedrich Wedell selbst und seiner unermüdlichen Projektkoordinatorin Sabrina Kolberg – einen ganz erstaunlichen Aktionsradius hat. Derzeit gibt es ermutigende Anzeichen, dass das Festival durch Stadt und Land dauerhaft finanziell abgesichert werden könnte. Zu wünschen wäre es, denn im Norden gibt es nichts Vergleichbares.

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