Hauptrubrik
Banner Full-Size

Absolute Zeitgenossenschaft

Untertitel
Diedrich Diederichsens „2.000 Schallplatten“/Die Pop-Musik und ihre Theorie wird historisch
Publikationsdatum
Body

Er war der Dieter Thomas Heck der Pop-Theorie: Kein anderer konnte so irrwitzig schnell das, was gerade geschah, auf oft schwindelerregende und fast immer treffende Begriffe bringen: DD, der sexy Denker einer Szene, mit einem Markennamen, der nicht zufällig an BB oder MM erinnert; der Durchblicker mit den besten Neologismen; der Chronist der Augenblicke, die sich für ewig hielten. Jetzt, in die Jahre gekommen und ein deutscher Dozent und Diskurs-Tourist geworden, bastelt er mit ein paar raffinierten Essays aus 2.000 Momenten der pop-history – die Kritiken wurden in den 80er- und 90er-Jahren in „Sounds“, „Spex“ und „Konkret“ erstveröffentlicht – die Geschichte einer Generation.

Er war der Dieter Thomas Heck der Pop-Theorie: Kein anderer konnte so irrwitzig schnell das, was gerade geschah, auf oft schwindelerregende und fast immer treffende Begriffe bringen: DD, der sexy Denker einer Szene, mit einem Markennamen, der nicht zufällig an BB oder MM erinnert; der Durchblicker mit den besten Neologismen; der Chronist der Augenblicke, die sich für ewig hielten. Jetzt, in die Jahre gekommen und ein deutscher Dozent und Diskurs-Tourist geworden, bastelt er mit ein paar raffinierten Essays aus 2.000 Momenten der pop-history – die Kritiken wurden in den 80er- und 90er-Jahren in „Sounds“, „Spex“ und „Konkret“ erstveröffentlicht – die Geschichte einer Generation. Altern als Problem. Nicht nur für zu Tode fotografierte, „abgenutzte“ Glamour-Ikonen, sondern genau so für die Theoretiker einer Bewegung, die Jugend für ein Programm und für eine Tugend per se hielt: „Forever young!“ und „The Kids are allright!“ waren auch DDs Slogans, ehe ihn der Schock von Rostock-Lichtenhagen und die ersten grauen Haare einholten.

1983 schrieb er, passend zum „Sounds“-Ende und SPEX-Debüt, in der Besprechung einer Single der damals allseits geachteten Polit-Hedonisten „Heaven 17“: „Das Lied, das es einem wieder wert erscheinen läßt, 37 Jahre alt zu werden.“ Damals war DD 25. Jetzt ist er älter als Lothar Matthäus beim EM-Desaster. Die Unmittelbarkeit ist dahin, weil er schon viele absolute Augenblicke erlebt und auf diverseste Weise Recht und dann gleich wieder Unrecht gehabt hat.
Aber DD sieht im Nacheinander der diskontinuierlichen hippen „Jetzts!“ nicht nur den Scherbenhaufen scheiternder Jugendbewegungen beziehungsweise abgetaner Genres und Stile und in der wüsten, sich jagenden Dialektik immer heftigerer Begriffsbildungen nicht deren fatale (Selbst-)Widerlegung, sondern ein faszinierendes Muster. Wie einst Hegel in der „Phänomenologie“,erzählt auch Diedrich Diederichsen eine Bildungsgeschichte der Menschheit, die Logik all der Räusche und Kater. Nur dass sein Medium nicht der Weltgeist ist, sondern die Schallplatte. Pop, so das Diktum, ist schneller als Philosophie: „die rascheste Weise, die Wahrheit zu sagen.“

Und wie Hegel findet auch DD den ultimaten Dreh: eine Begriffsgeschichte der Sub-Kultur, die sich in allen Verästelungen permanent selbst plausibilisiert – in gewisser Weise haben die „Kids“ (und, mittlerweile, die sehr viel älteren Brüder, die sie wohlwollend begleiten und überbieten) tatsächlich immer recht, wenn auch „nur“ als notwendiges Moment, als weitere Facette und nicht in den Grandiositäts-Gefühlen begnadeter Momente, die nichts anderes (aner-)kennen wollen.

„2.000 Schallplatten“ sind, wenn man böse ist, ein Archiv der Irrtümer, die durch subtilste Kasuistik zu einer faszinierenden Kette fortschreitender Erkenntnisse uminterpretiert werden. Wohlwollender könnte man sagen: Diederichsen war in den letzten 20 Jahren immer und überall dabei, er war Teil und Motor der Bewegung. Wer seine zersplitterte Autobiografie in Kritiker-Dokumenten liest, erfährt alles Wesentliche über den immer reicheren Pop-Kosmos. Und nicht nur das: Er kann in seinen Splittern auch den Spiegel einer Welt erkennen, die aus den Fugen geraten ist, weil sie sich, der Logik der Verwertungszwänge, aber auch der privatesten Gier und der technologischen Erfindungen folgend, immer mehr beschleunigt hat. Vielleicht ist der Pop-Kritiker DD, gerade weil er nicht an den Fetisch Authentizität glaubt, der reichste Phänomenologe einer Wirklichkeit, die keine Mitte und keinen Ursprung mehr hat, die in fast allem de-zentriert und Konstrukt, Artefakt, „Kode“ ist. Diedrichsen reagiert darauf nicht kulturkritisch (was immer falsch und fade ist), sondern kämpferisch und erfindungsreich. Er versteht sich als Partisan und Nomade; das setzt intellektuelle Wachheit voraus; der simple Glaube hält dem Terror der Realität nicht mehr stand.

„2.000 Schallplatten“: Das ist weniger die Enzyklopädie eines Fans, der nach der ultimaten Ordnung seiner Sammlung sucht, sondern das Labor eines Pop-Rimbaud, manchmal auch Pop-Lenin, der noch das kleinste, abseitigste Musikstück vor allem zum Anlass nimmt, sein eigenes Instrumentarium der Beschreibung und Erklärung der Welt weiter zu entwickeln und zu schärfen und sein eigenes Repertoire an Haltungen und Posen immuner gegen Einwände und Anschläge zu machen.

Wer „2.000 Schallplatten“ jetzt liest, ist Zeuge eines mehrfach gebrochenen Abenteuers: Denn in dem Band sind ja nicht nur die hastigen Stenogramme aus dem Herzen popmusikalischer Augenblicke versammelt, sondern auch die innig-ironischen, blendenden Fußnoten und Kommentare aus gebührendem „historischen“ Abstand und die knappen, essayistischen Resümees, die ein ganzes Zeitalter in wenige Seiten packen, so reich, so wüst, vor allem so „päpstlich“-apodiktisch, dass man sich mit Lust, manchmal auch mit produktiver Wut daran abarbeiten kann.

Ein paar lange Jahre in den 80ern war DD der Mann, der nichts falsch machen konnte, der sich im verminten Gelände der (Pop-)Diskurse, politischen Analysen und Parteinahmen, auch der harschen Abrechnungen und des dekonstruktivistischen „Großreinemachens“ mit einer verblüffenden, traumwandlerischen Sicherheit bewegte: risikobereit und für jede Überraschung gut. Das ist lange her. Jetzt spürt man überall die Melancholie; Älterwerden kann ja auch heißen: Nicht-weiter-Wissen; der theoretische Gestus ist immer noch zupackend, aber eben auch gebrochen; manche würden vielleicht sagen: reflexiv. DD ist sich selbst historisch geworden. Er schaut sich bei der Arbeit über die Schulter und wenn wir seinem Blick folgen, erfahren wir nicht nur eine Menge über die Geschichte der Pop-Musik, der Jugendbewegungen und der bohemienistischen Szenen in den letzten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts.

1989, im Jahr des „Mauerfalls“, das auch, retrospektiv, eine Wende, um nicht zu sagen Bruch in DDs Biografie brachte, erscheint Neil Youngs Single „Rockin in the Free World“, eine hintersinnige, ja hinterfotzige Hymne auf die siegreiche „freie“ Welt und ihren „Underground“. DD bezweifelt, mit guten Argumenten, dass Neil Young das „free“ einfach nur ironisch meint, Vertrags-Freiheit und formales, auch formal gleiches Recht sind tatsächlich die Essenz der „western world“. Aber Neil Young/DD sehen auch, dass ein mindestens genau so wichtiges und elementares Bedürfnis im sich ausbildenden Hyper-Kapitalismus immer drastischer blamiert wird: das Recht, „cool“ zu sein, sich nicht verkaufen zu müssen, den Schwerpunkt seiner Identität in sich selbst – und nicht in seinem Chef oder irgendwelchen funktionalen „Erfordernissen“ – zu haben. Hegel wusste schon, dass in der bürgerlichen Gesellschaft „cool“ nur der sein kann, der über Geld verfügt. DDs Buch und die Musik, die in erster Linie in ihm „verhandelt“ wird, erzählen von den oft fatalen Revolten und subversiven Strategien gegen diese fortbestehende Einsicht – und von den Schönheiten, auch der Vitalität, die in diesem Kampf zumindest für lange Augenblicke entstehen. DD verherrlicht das Scheitern nicht, aber er verleugnet es auch nicht.

Diedrich Diederichsen: 2000 Schallplatten 1979–1999, Hannibal Verlag.

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!