Die imposante Statue auf dem Marktplatz in Halle, wo Georg Friedrich Händel am 23. Februar 1685 geboren wurde, zeigt den Komponisten wie einen Imperator. Blind, und doch als gläubiger Visionär auf einen Engel schauend, ist er auf seinem Grabmal in der Westminster Abbey dargestellt: Georg Friedrich Händel, „dem hervorragendsten Musiker, der je gelebt hat“, gestorben am 14. April 1759 in London.
Beide Steinskulpturen können wie Symbole für die aktuellen Händel-Biographen betrachtet werden: Zwar sind sich die meisten Autoren einig, dass Händel ein gigantisches Werk hinterlassen und einen singulären Status als Nationalkomponist in England mit europäischer Resonanz erreicht hatte, doch über seine Persönlichkeit ist das Wissen eher bescheiden.
Weil es eben so wenige zuverlässige historische Quellen zu seinem Privatleben gibt, ist die Versuchung groß, biographische Lücken mit unverbindlichen Anekdoten zu füllen. Allzu bereitwillig gibt Till Sailer (1) seiner Fabulierlust nach, wenn er in einer dramatischen Szene beschreibt, dass Händel (im Alter von fünf oder sechs Jahren) von seinem Vater bei verbotenen Claviercord-Übungen erwischt und bestraft wurde. Seine Geschichten basieren mehr auf dem Wunsch, von einer Wunderkind-Karriere zu erzählen, als auf Tatsachen. Vorsichtiger ist da schon Paul Barz (2), denn sein imaginativer Roman hat zwar eine fiktionale Handlung, doch entlang der bekannten Ereignisse aus Händels Leben ist diese plausibel und atmosphärisch so geformt, dass man sich etwa den Eklat an der Oper in Hamburg, nachdem Händel von seinem Freund Mattheson provoziert worden war, ohne Irritationen vorstellen kann. Nicht zu beweisende Vermutungen über mögliche homosexuelle Neigungen von Händel rückt Paul Barz leider zu nahe in den Bereich der Wahrscheinlichkeit.
Eine Tendenz, die anderswo vermieden wird. Auch von Uwe Neumahr (3), dessen Buch ein Hybrid ist, ein „auf strenger Literatur- und Notenrecherche basierendes – mit fiktionalen Elementen“. Nämlich mit unaufdringlicher Rahmenerzählung und illustrierenden Episoden, die in verantwortlicher Manier, etwa zu den kaum dokumentierten Begegnungen von Händel und einflussreichen Aristokraten während seines Italienaufenthalts von 1706 bis 1709, eingestreut sind. Nicht linear, sondern das Sujet wie bei einem modernen Film aus wechselnden Blickwinkeln beleuchtend, sodass man mit aufmerksamem Interesse weiterliest.
Je nach Stil bleibt Interesse auch bei den akademischen Büchern präsent. Die Kurzbiographie von Peter Overbeck (4) ist, von einigen zeitgenössischen Zitaten abgesehen, eher eine erweiterte Chronologie und musikwissenschaftliche Werkbetrachtung, ziemlich dröge geschrieben. Sehr skeptisch gegenüber verifizierbaren Fakten zu Händels Leben ist Dorothea Schröder (5). Doch gerade weil sie kritischen Diskurs selbst zum Thema ihrer Argumentation macht, wird die Lektüre spannend. Sie verweist zu Recht darauf, dass nicht geklärt ist, warum Händel und der gleichaltrige Johann Sebastian Bach sich nie getroffen haben (während andere Autoren Händel Ignoranz oder sogar Angst vorwerfen).
Man kann die Händel-Vita auch auf andere Weise sinnvoll ergänzen, wenn man, wie Franzpeter Messmer (6), die eigene Anschauung historischer Stationen einbezieht. Vergangenheit und Gegenwart fließen im erzählenden Subjekt zusammen, doch so, dass der Kontrast und vor allem der kritische Abstand zu den historischen Quellen wie dem überall berücksichtigten Buch von John Mainwaring, der ersten Musikerbiographie überhaupt, gewahrt bleibt. Durch eine sehr differenzierte Beschreibung der Person Händel aufgrund neuester Forschungen wird sein Charakter als ambivalent erkennbar. Keine stetige Erfolgsgeschichte war sein Leben, sondern abhängig von der Gunst des Publikums, das Händel in seiner Funktion als Operndirektor und -unternehmer in London leidenschaftlich umwarb. Welche Standards und Risiken er zu beachten hatte, schildert Franz Binder (7) in kurzen kulturhistorischen Exkursen wie über die Gewohnheiten des barocken Theaterpublikums.
Solche systematischen Wissens-Intermezzi fördern das Verständnis, wie Händel öffentlich wahrgenommen wurde. Extensiviert hat Karl-Heinz Ott (8) diese Perspektive, indem er Händel ins Labor des musikästhetischen Diskurses schickt. Der Vita übergeordnet ist sein Essay eine Rehabilitation der Barockmusik nach deren Abwertung von Theoretikern wie Theodor W. Adorno. Dennoch keine trockene Abhandlung, vielmehr eine souveräne Auseinandersetzung mit Fehlurteilen aus der Händelrezeption in ironisch-sarkastischem Stil. Ein grandioses intellektuelles Spektakel.
Klingend ist die Biographie von Corinna Hesse (9), denn der von Dietmar Mues mit flexibler Intonation gesprochene Text ist von exemplarischer Händel-Musik umrahmt. Das Händel-Hörbuch entführt mit atmosphärischer Dichte ins Barockzeitalter. Multimedial ist der biographische Bilderbogen, den Dietmar Huchting (10) konzipiert hat. Außer den wichtigsten Lebensstationen hat er viele bei anderen Publikationen kaum beachtete Details etwa zu den Stadtgeschichten von Halle und London zu einem gediegenen Zeitpanorama gefügt. Große Abbildungen der von Händel engagierten Kastraten Senesino und Farinelli sowie der Diva Faustina Bordoni, von Freunden und Förderern der englischen Aristokratie, Genrebilder und Kupferstiche bringen das gesellschaftliche Leben im Barock optisch näher. Dazu vier CDs mit exemplarischen Aufnahmen von Orchesterwerken (unter anderem „Wassermusik“), Opernarien, Exzerpten des „Messias“ und Orgelkonzerten, die das Spektrum in Händels Œuvre repräsentieren. Ein opulenter Band im Großformat für Händel-Enthusiasten.
Fazit: Am Ende seines Lebens war Georg Friedrich Händel reich, aber blind. Von seinem Vater verabschiedete er sich als junger Mann mit der Zeile „den freyen Künsten Ergebener“. Über seine Eigenschaften als Künstler haben die Autoren in ihren Biographien viele neue, analytisch begründete Bewertungen gefunden. Blind bleiben mussten sie für viele Geheimnisse in Händels Privatleben, die er mit ins Grab nahm.
(1) Till Sailer: Georg Friedrich Händel. Wie „Der Messias“ entstand und andere Geschichten aus seinem Leben, Brunnen Verlag, Giessen/Basel 2009, 171 S., € 8,95, ISBN 978-3-7655-4038-7
(2) Paul Barz: Händel. Ein biographischer Roman, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2008, 318 S., € 22,95, ISBN 978-3-579-06457-4
(3) Uwe Neumahr: Georg Friedrich Händel. Ein abenteuerliches Leben im Barock, Piper Verlag, München/Zürich 2009, 396 S., Abb., € 22,95, ISBN 978-3-492-05051-7
(4) Peter Overbeck: Georg Friedrich Händel. Leben – Werk – Wirkung, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2009, 160 S., Abb., € 7,90 ISBN 978-3-518-18237-6
(5) Dorothea Schröder: Georg Friedrich Händel, Verlag C.H. Beck, München 2008, 228 S., Abb., € 7,90, ISBN 978-3-406-56253-2
(6) Franzpeter Messmer: Georg Friedrich Händel. Biographie, Artemis & Winkler/Patmos Verlag, Düsseldorf 2008, 285 S., Abb., € 19,90, ISBN 978-3-491-35022-9
(7) Franz Binder: Georg Friedrich Händel. Sein Leben und seine Zeit, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2009, 237 S., Abb., € 14,90, ISBN 978-3-423-24710-8
(8) Karl-Heinz Ott: Tumult und Grazie. Über Georg Friedrich Händel, Hoffmann & Campe Verlag, Hamburg 2008, 318 S., € 22,00, ISBN 978-3-455-32059-6
(9) Corinna Hesse/Dietmar Mues/Roswitha Rösch: Das Händel-Hörbuch: Eine klingende Biographie, Silberfuchs Verlag, Kayhude 2009, CD, 16 S., Abb., € 24,00, ISBN 978-3-940665-10-2
(10) Dietmar Huchting: Händel – Ein biographischer Bilderbogen, earbooks/edelentertainment Hamburg 2009, 120 S., Abb., 4 CDs, E 39,95, ISBN 978-3-940004-73-4