Ausgehend von der französischen Benediktinerabtei Solesmes und hier vor allem von deren langjährigem Kantor Dom Eugène Cardine, multipliziert durch dessen Lehrtätigkeit an der Päpstlichen Musikhochschule in Rom seit 1952, erreichte eine Welle gregorianischen Pioniergeistes in den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts auch den deutschsprachigen Raum.
Damit einher ging ein bis heute ungebrochenes, inzwischen deutlich über kirchliche Kreise hinausgehendes Interesse am ältesten liturgischen Gesang der Christenheit, an seiner wechselvollen Historie und Tradierung ebenso, wie der überraschend neuartigen, faszinierenden Singweise, die durch das zunehmende Verständnis der Neumen – seiner frühesten Form der Niederschrift vom 9. Jahrhundert an – überhaupt erst möglich wurde. Zahlreiche Publikationen machten bislang Forschungsergebnisse vor allem fachlichen Insidern zugänglich. Zwischenzeitlich vermochten zudem andere Disziplinen – Historiker wie Liturgie- und Musikwissenschaftler –, Bedeutendes zum Verstehen des singulären Phänomens der Gregorianik beizutragen.
So fehlte in letzter Zeit zunehmend ein die reichen Erkenntnisse auf Höhe der Zeit vereinendes Standardwerk, das zugleich angemessen auf die unterschiedlichen Fragestellungen seiner vielfältigen Nutzer ausgerichtet war. Ein solches Opus legt nun der ConBrio-Verlag mit Klöckners „Handbuch Gregorianik“ vor. Auf 235 Seiten gelingt dem Inhaber des Lehrstuhls für Gregorianik, unter anderem an der Essener Folkwang-Hochschule, eine umfassende, weit in die themenverwandten Disziplinen greifende Darstellung der Materie.
Das Buch stellt zudem einige neuere, noch recht wenig verbreitete Aspekte dar, die das Verstehen der vielschichtigen Historie weiter aufhellen: so die Schilderung der wechselseitigen Alteritätserfahrung im Kontext der von Papst und Kaiser erzwungenen Verschmelzung der römischen und fränkischen Vorläuferrepertoires Ende des 8. Jahrhunderts, die ja vor allem auch politisch motiviert war: Der Gottesdienst von Rom und damit auch seine Gesänge waren verbindliches Modell für die vielfältigen Kulturlandschaften des soeben aufblühenden römischen Reiches deutscher Nation. So der kunsthistorische und geistesgeschichtliche Hintergrund in der Zeit der Romantik, der eine Renaissance katholischen Lebens und Fühlens nach sich zog. So aber auch die an der Schwelle zum 20. Jahrhundert seitens Papst Pius X. betriebene, zunächst zwar beherzt entschiedene, letztlich doch wenig geschickt geführte Vorbereitung der „Editio Vaticana“, in deren Folge die beteiligten Kommissäre gänzlich zerstritten waren und auf Drängen Roms eine aus heutiger Sicht zumindest suboptimale Wiederherstellung der damals bereits seit Jahrhunderten entstellten Melodien der Gesänge zustande kam.
Das Buch mit seinen zahlreichen Reproduktionen, Tabellen und Schaubildern sowie einem umfassenden Glossar und Literaturverzeichnis, dürfte den unterschiedlichen Zugängen der breit gefächerten Zielgruppe von Studierenden der Kirchenmusik an Musikhochschulen wie den C-Fachausbildungen der Kirchen, Theologen wie Musikwissenschaftlern bis hin zu den zahlreichen Praktikern in Choralscholen und Chören durchaus gerecht werden: Es klärt die Grundlagen, so liturgische und formenkundliche Begriffe, zeichnet die Historie des Chorals bis zu seinen Wurzeln in der frühchristlichen Feierkultur nach und erläutert die Geschichte der im 9. Jahrhundert in Europa um sich greifenden Verschriftlichung des Chorals, die Entstehung und Ausprägung der unterschiedlichen Schreibschulen bis hin zur Frage des Umgangs mit diesen Handschriften bei der Rekonstruktion der gregorianischen Melodien.
Dem Exkurs zu den späteren Formen Tropus und Sequenz folgt die Darstellung der Phase der Erosion und Entstellung des Gregorianischen Chorals in den Stürmen der Kirchen- wie Musikgeschichte bis hin zum Aufbruch in die Restauration. Anhand des um 1000 nahe St. Gallen geschriebenen Antiphonars des Mönchs Hartker werden für das Gesamtrepertoire typische rhetorische Details des gregorianischen Wort-Ton-Verhältnisses dargestellt. Eine umfassende Neumenkunde bereitet auch auf das besondere repertoirespezifische Dirigat vor.
Erfreulich und konsequent ist der Brückenschlag hin zu konkreten Vorschlägen einer angemessenen Einbindung dieser kostbaren mittelalterlichen Kunst auch in moderne gottesdienstliche Feierformen!