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Die verborgenen Schätze eines reichen Repertoires

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Groß besetzte Streicherkammermusik des 19. Jahrhunderts, systematisch und historisch aufgearbeitet
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Joseph Haydn soll auf die Frage, weshalb er keine Streichquintette schreibe, geantwortet haben, er könne die fünfte Stimme nicht finden, und Reichardt meinte zur fünften Stimme im Quintett sogar, sie „verwirret nur und bringt Undeutlichkeit in’s Stück.“ Mozart sah dies bekanntlich ganz anders, und seine Zeitgenossen Brunetti, Boccherini und Pleyel fanden sogar eine sechste Stimme für den reinen Streicherverbund. Doch das Problem, wie in groß besetzter Streicherkammermusik mehr als vier obligate Stimmen sinnvoll beschäftigt werden können und zugleich der kammermusikalische Charakter gewahrt werden kann, zieht sich durch in dem Repertoire, das Michael Wackerbauers vorzügliche Regensburger Dissertation erstmals systematisch aufarbeitet und unter die Lupe nimmt.

Während es zum Streichquintett des 18. und 19. Jahrhunderts bereits zwei (nicht gerade brillante) Monographien gibt, ist das Repertoire an Sextetten, Oktetten und Doppelquartetten für Streicher bislang ja noch nie umfassend gesichtet und ausgewertet worden, und umso erfreulicher ist es, dass dies hier nun gleich auf hohem Niveau geschieht − ebenso gründlich recherchierend wie intelligent interpretierend. Wackerbauer konzentriert sich dabei weitgehend auf das letzte Viertel des 18. und die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts, skizziert aber im Schlusskapitel noch die Entwicklungen bis um 1900. Damit korrigiert er von vornherein die verbreitete Ansicht, das Sextett sei im wesentlichen durch Spohr und Brahms begründet worden. Immerhin gab es vor Spohr schon mindestens vierzig Sextette und zudem eine bunte Besetzungsvielfalt von nicht weniger als sechs Varianten, häufig mit Kontrabass und ein bis drei Bratschen. Die historische Bedeutung von Brahms’ Sextetten liegt somit eher darin, die Standardisierung der paarigen Besetzung aus Violinen, Violen und Celli forciert zu haben.

Wackerbauer fächert das Thema zunächst in systematischem Zugriff auf, indem er, ausgehend von historischen Zeugnissen, die grundsätzliche Problematik des vielstimmigen Satzes in der „klassisch-romantischen Tonsprache“ diskutiert und fragt, welche Möglichkeiten zur Texturbildung es überhaupt gibt und wie dann Besetzungs- und Texturwechsel auf die Formbildung einwirken können. So lernt man etwa, dass im Sextett prinzipiell nicht weniger als 64 verschiedene Gruppenbildungen möglich sind (und ahnt, dass es beim Oktett tausende sein mögen …). Das prinzipiell Mögliche wird jeweils anschaulich mit Notenbeispielen aus Werken belegt, die vielfach nicht in Partitur zugänglich sind, so dass der Interessierte − dies allein schon macht das Buch wertvoll − durch die zahlreichen Beispiele sich erstmals überhaupt ein gewisses Bild von Werken machen kann, die bislang so gut wie niemandem bekannt waren.

Dies gilt umso mehr für den historisch angelegten Hauptteil der Darstellung, in dem Wackerbauer plastisch verschiedene Traditionen und Spielarten der Sextettkomposition herausarbeitet, wobei er den in verschiedener Weise konzertanten Werken von Boccherini, Brunetti, Pleyel, Eybler und Arditi den homogeneren Satz bei Komponisten wie Joachim N. Eggert, Ferdinand Ries und Spohr gegenüberstellt, mit einem interessanten Seitenblick auf eine anonyme Sextettbearbeitung von Mozarts „Sinfonia concertante“ KV 364. Dass dabei vor lauter Texturfragen die musikalische Physiognomie mancher Werke blass und zum Beispiel offen bleibt, ob Pleyels Sextett kompositorisch der Haydn-Nachfolge zuzurechnen wäre, ließ sich wohl kaum vermeiden. In gleicher Weise wird auch das recht überschaubare Repertoire an Doppelquartetten in seiner historischen Entwicklung und seinen individuellen Spezifika profiliert, wobei hier insbesondere Andreas Rombergs Fragment gebliebener Beitrag schön in seiner Wirkung auf Spohr wie auch seiner Eigenart gewürdigt und auf G.W. Finks Entwurf einer Gattungsästhetik von 1828 bezogen wird.

Umso deutlicher wird dann in diesem Kontext, dass das Oktett des jungen Mendelssohn, dem Wackerbauer ein großes, sehr facettenreiches Kapitel widmet, ein genialer Einzelfall war − ein Werk, das mit dem großen Ensemble derart virtuos umgeht, dass erst nach Mendelssohns Tod Komponisten damit zu wetteifern wagten. Im Schlusskapitel vermag Wackerbauer dann auch zu zeigen, dass ein Großteil der Sextett- und Oktettproduktion der zweiten Jahrhunderthälfte der direkten oder indirekten (nämlich aus der Leipziger Schule hervorgehenden) Mendelssohn-Nachfolge verpflichtet ist, in Kopenhagen ebenso wie in St. Petersburg. – Alles in allem: ein hochinteressantes, substanzreiches und obendrein (trotz allzu ausufernder Fußnoten) sehr gut lesbares Buch, das nicht zuletzt dazu anstacheln sollte, ein zu Unrecht vergessenes Repertoire wieder zum Klingen zu bringen.

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