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Ist eine Welt zu denken, eine Zeit, in die ich passen würde?

Untertitel
Christa Wolf über das Libretto zu „Medea in Korinth“ · Das Gespräch führte Thomas Otto
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neue musikzeitung: Lassen Sie uns zunächst über Ihre Medea sprechen. Sie beschreiben sie nicht als die vor Eifersucht rasende Kindsmörderin. Für mich ist Medea eine Frau, die an der Unzulänglichkeit der gesellschaftlichen Umstände leidet, sowohl jener, denen sie entstammt als auch jenen, in die hinein sie Jason gefolgt ist. Sie fühlt ihre Machtlosigkeit, ihre Enttäuschung, sieht sich verraten. Was hat Sie zu „Medea“ geführt? War es die menschliche Tragödie einer einzelnen Figur, oder ihr Scheitern als Außenseiterin in einer Gesellschaft Verführter, Verblendeter?
Christa Wolf: Das sind schon die Folgen des Grundthemas. Das nämlich war für mich: Wozu brauchen wir Sündenböcke über die Jahrtausende hin? Heute wirkt sich dieses Bedürfnis, wenn man Glück hat, etwas anders aus als damals, wo der menschliche Sündenbock entweder umgebracht oder aus der Stadt getrieben wurde, die Sünden dieser ganzen Stadt auf den Schultern. Damit hat er die anderen entsühnt. Das Christentum hat sich mit Jesus Christus noch einen Sündenbock gestattet und dann versucht, sich von dieser atavistischen Sitte zu befreien. Das heißt eigentlich, der Zivilisationsprozess ist unter anderem und nicht zuletzt ein Prozess, sich von den Sündenböcken zu lösen, sie nicht mehr zu brauchen, was offenbar ganz schwer ist. In unserer Zeit braucht man sie wieder sehr. Das war eigentlich mein Grundanliegen. Und der Mythos schildert, wie ich durch Recherchen und Gespräche mit Fachleuten erfuhr, zwar Medea als Sündenbock, aber nicht als die rasende Kindsmörderin. Erst Euripides machte sie später dazu. Das kam mir natürlich sehr entgegen. Es hat mich auch sehr interessiert, wie eine solche Frau in so einer Gesellschaft lebt – zunächst in ihrer Heimat Kolchis und dann in Korinth, wo sie nicht nur nicht anerkannt wird, sondern ausgegrenzt und dann aus der Stadt getrieben wird. Ich sah das als ein eminent zeitgenössisches Motiv.

neue musikzeitung: Lassen Sie uns zunächst über Ihre Medea sprechen. Sie beschreiben sie nicht als die vor Eifersucht rasende Kindsmörderin. Für mich ist Medea eine Frau, die an der Unzulänglichkeit der gesellschaftlichen Umstände leidet, sowohl jener, denen sie entstammt als auch jenen, in die hinein sie Jason gefolgt ist. Sie fühlt ihre Machtlosigkeit, ihre Enttäuschung, sieht sich verraten. Was hat Sie zu „Medea“ geführt? War es die menschliche Tragödie einer einzelnen Figur, oder ihr Scheitern als Außenseiterin in einer Gesellschaft Verführter, Verblendeter?Christa Wolf: Das sind schon die Folgen des Grundthemas. Das nämlich war für mich: Wozu brauchen wir Sündenböcke über die Jahrtausende hin? Heute wirkt sich dieses Bedürfnis, wenn man Glück hat, etwas anders aus als damals, wo der menschliche Sündenbock entweder umgebracht oder aus der Stadt getrieben wurde, die Sünden dieser ganzen Stadt auf den Schultern. Damit hat er die anderen entsühnt. Das Christentum hat sich mit Jesus Christus noch einen Sündenbock gestattet und dann versucht, sich von dieser atavistischen Sitte zu befreien. Das heißt eigentlich, der Zivilisationsprozess ist unter anderem und nicht zuletzt ein Prozess, sich von den Sündenböcken zu lösen, sie nicht mehr zu brauchen, was offenbar ganz schwer ist. In unserer Zeit braucht man sie wieder sehr. Das war eigentlich mein Grundanliegen. Und der Mythos schildert, wie ich durch Recherchen und Gespräche mit Fachleuten erfuhr, zwar Medea als Sündenbock, aber nicht als die rasende Kindsmörderin. Erst Euripides machte sie später dazu. Das kam mir natürlich sehr entgegen. Es hat mich auch sehr interessiert, wie eine solche Frau in so einer Gesellschaft lebt – zunächst in ihrer Heimat Kolchis und dann in Korinth, wo sie nicht nur nicht anerkannt wird, sondern ausgegrenzt und dann aus der Stadt getrieben wird. Ich sah das als ein eminent zeitgenössisches Motiv. nmz: Sie haben 1992 mit der Arbeit an dem Roman begonnen...
: Ja, aber dann war ich ein dreiviertel Jahr in den USA. In dieser Zeit habe ich die Arbeit daran zunächst einmal unterbrochen, um anderes zu tun. Als ich wieder zurück war, habe ich mich dann auf den Medea-Stoff konzentriert.
nmz: ... hat sich die Sicht auf den Stoff in diesem dreiviertel Jahr verändert? Haben Sie es als dringender empfunden, sich seiner wieder anzunehmen? Wolf: Es war genauso dringend wie zuvor, da hat sich nichts verändert. Allerdings hat sich – was immer gut ist bei Stoffen – eine gewisse Distanz ergeben. Sie entschärft nicht, aber sie bringt doch einen reiferen Blick auf den Stoff. Das, so hatte ich den Eindruck, geschah auch hier. : Die Medea in Ihrem Roman denkt und spricht wie eine Frau von heute, dazu ist sie umgeben von einem Ensemble von Leuten, das in seiner Gesamtheit ein Bild von Medea wiedergibt, das weitaus vielschichtiger ist. In der Prosa ist das vergleichsweise gut zu realisieren. Schwieriger scheint mir das in der dramatischen Form zu sein. In der Zusammenarbeit mit Georg Katzer erlegen Sie sich meines Erachtens einen „Zwang zur Reduktion“ auf. Mussten Sie nicht Verluste fürchten, die der Komplexität der Figur Medeas entstehen konnten, zum Beispiel ihre so wichtigen Reflexionen über die Menschen, über Korinth und Kolchis?
: Das weiß ich nicht genau. Mir war klar, dass ich den Stoff auf alle Fälle reduzieren musste. Das bedeutete: Nebenfiguren fielen weg – Arethusa, auch ihr Geliebter, zum Beispiel. Das fiel mir schon schwer. Aber mir wurde dann klar, während wir darüber nachdachten und miteinander darüber sprachen, dass wir uns auf eine Linie konzentrieren mussten. Ich hätte diese Linie wahrscheinlich nicht so gefunden, wenn es nicht vorher die Prosa-Fassung gegeben hätte. Aus ihr habe ich die Linie „herausgezogen“. Dabei habe ich mich bemüht, innerhalb dieser Linie noch reichhaltig zu bleiben, das heißt, Motive so zu schildern, dass sie nachvollziehbar sind. Diese Oratoriumsfassung heißt ja nicht zufällig „Medea in Korinth“. Das bedeutet, der ganze Komplex Kolchis, ihre Vorgeschichte, die ja ein wichtiger Teil der Prosafassung ist, wird hier nur in kurzen Sätzen angedeutet, erzählt, damit man den Hintergrund weiß. Ansonsten fällt er weg. Auch die ganze Komplexität der Liebesgeschichte mit Jason musste reduziert werden. Übrig bleibt eben hauptsächlich dieser „Sündenbock“-Aspekt. Da-rauf habe ich mich konzentriert. Wenn man nun die Prosafassung kennt, wird man etwas vermissen – das hoffe ich. Aber ich litt nicht darunter, weil es ja beides gibt. : Gleichwohl haben Sie so wichtige Dialoge wie jene, in denen Medea die Königstochter Glauke beschwört, sich der Erlebnisse ihrer Kindheit zu erinnern, in den Oratoriumstext übernommen.
: Ja, weil alles, was mit diesen Erinnerungen an Glaukes Schwester Iphinoe zusammenhängt, zu dieser Fassung gehört. Sie war letztlich der Anlass für die Korinther Medea zu verdammen, die auf die Spur dieses Verbrechens gekommen war. Das musste erzählt werden. Am Ende wird ja auch Glaukes Tod noch erzählt.
Das Problem dabei ist ja – dies ist keine Oper. Die Leute handeln nicht, sondern sie stehen da und erzählen – also muss die Handlung in dem stattfin-den, was sie sagen, und in den Köpfen der Leute, die da zuhören. Das musste ich mir erst einmal klarmachen. Ich hatte ja nie vorher einen Text für Musiktheater oder für ein Oratorium erarbeitet.

Chor in antiker Tradition

: Neu in Ihrem Oratoriumstext (gegenüber dem Roman) ist die Einführung des Chores in seiner Rolle als Kommentator und Erzähler. War dies eine bewusste Aufnahme der Traditionen der antiken Tragödie? In den klassischen Oratorien zum Beispiel obliegt ja die Funktion des Erzählens dem Rezitativ...
: Es hat sich fast ergeben, und ich habe das bewusst weitergeführt: Die Protagonisten sprechen nicht wie in dem Prosatext. Das ist natürlich ein großer Unterschied, ob eine Autorin über ein Buch die Sprache der Figuren vermittelt, oder ob Protagonisten direkt zu den Zuhörern sprechen oder singen müssen. Wir kamen darauf, dass der Chor sich auf emotionale und inhaltliche Schwerpunkte konzentrieren sollte.
Ich hab mir sehr viel vorgestellt, nicht gerade im Ohr, aber bildlich. Und natürlich versuchte ich mir auch vorzustellen, wie so was bei den Zuhörern ankommt. Den Rhythmus der Sprechpassagen habe ich ganz bewusst so geschrieben. Genauso bewusst entstanden jene Textstellen, an denen der Sänger zum Sprecher wird – da spricht er Prosa, nicht rhythmisch. : Eine der – für mein Verständnis – Schlüsselszenen im Oratorium beschreiben Sie in der Konstellation Akamas–Volk–Medea. Akamas fragt: „Was wollt ihr, dass ich tue?“ Das Volk antwortet: „Stopf ihr den Mund. Sie hat nur Unheil über uns gebracht. Sie hat die Pest uns angehext. Für sie ist in Korinth kein Platz.“ Darauf Akamas: „Hörst du sie, Medea?“...
: Im Mathäus-Evangelium ist es Pontius Pilatus, der sagt: „... ich wasche meine Hände in Unschuld“, nachdem das Volk die Freigabe von Barabbas und damit Jesus‘ Kreuzigung forderte. Ist dies ein Hinweis auf die Wiederholbarkeit und Vergleichbarkeit solcher Vorgänge in der Menschheitsgeschichte? Auch hier wird ja das Ausmaß der Verführung deutlich.
Diese Szene kommt so in der Prosafassung nicht vor. Insofern haben Sie schon recht, das besonders zu bemerken. Es hat sich so ergeben, dass der Akamas in diese Rolle kam. Eine Assoziation mit Pilatus hatte ich nicht beabsichtigt, aber ich habe sie dann zugelassen, aus mehreren Gründen. Der eine ist, dass sich das Sündenbock-Motiv durch die Geschichte und Frühgeschichte zieht, soweit wir sie kennen, und dass im Christentum die Opferung Christi einer ihrer Höhepunkte ist. Der zweite Grund war, wie Sie es sagten: die Wandelbarkeit und Verleitbarkeit großer Menschenmassen, die man manipuliert hat. Das ist ebenfalls ein Motiv, das sich durch die Geschichte zieht. Der dritte schließlich: zu zeigen, wie jemand ganz allein ist, der beide Rollen nicht annehmen kann und es nicht will, sondern dazwischen steht. Er will nicht Opfer oder Sündenbock sein, aber er – oder sie – will auch nicht manipuliert werden. Das heißt, dies Zwischen-allen-Parteien-und-allen-Lagern-Stehen – daran gehen heute noch Menschen kaputt, oder sie geben irgendwann einmal auf. : Als Ihr „Medea“-Roman 1996 erschien, setzte in meinem Freundeskreis eine Diskussion darüber ein, ob er wohl als eine Art Gleichnis auf die deutschen Verhältnisse zu Anfang der 90er-Jahre zu lesen sei – etwa wenn es um jene geht, die aus dem rückständigen Kolchis ins hoch entwickelte Korinth kommen, in eine Welt, in der auf den ersten Blick Wohlstand herrscht, in der ihnen aber nur am Rande ein Platz gewährt wird.
Bei früheren Werken, etwa „Kein Ort. Nirgends“ oder „Kassandra“ suchten Sie für die eigenen Konflikte nach Modellen in der Geschichte. Ist „Medea“ auch unter diesem Aspekt zu lesen?
: Wissen Sie, das ist nicht ganz leicht zu formulieren, weil man immer in Gefahr gerät, solche Fragen zu plump und zu direkt zu behandeln. Natürlich haben diese Problematik und die Konfliktsituation um die Wendezeit herum eine Rolle für mich gespielt, um überhaupt auf diesen Stoff zu kommen. Und mit der Findung, dass für die Medeaproblematik eben nicht der Kindsmord, sondern das Sündenbockmotiv charakteristisch ist, erschien mir der Stoff als der rechte zur rechten Zeit, wo ich das, was mich zu der Zeit bewegte, auch ausdrücken konnte. Nun hat man in einer Reihe von Rezensionen diese Vergleiche sehr direkt vorgenommen: DDR - Bundesrepublik, meine eigene Problematik darin - das ist natürlich viel subtiler. Ich sagte vorhin nicht ohne Grund, dass diese Zwischenzeit, in der ich in den USA war und der Stoff „lag“ - ich hab mich dort zunächst damit beschäftigt, mir sehr viel Material dazu besorgt, aber ihn dann nicht weiter bearbeitet – sehr heilsam war, um aus dieser direkten Verstrickung mit ähnlichen Motivketten herauszukommen. Die Schritte zurückzugehen, die einen Stoff dann „breiter“ machen und verallgemeinerbarer, das war der Prozess, den ich brauchte. Die eigene Konfliktsituation, das ist übrigens bei all meinen Büchern so, steht natürlich im Hintergrund. Sie ist da. Ich könnte nichts schreiben, was mich nicht wirklich selbst betrifft. : Im 4. Kapitel beschreibt Medea ihr Kolchis. Sie tut es auf eine Weise, die Parallelen geradezu herausfordert...
: Ja und nein. An dieser Stelle würde ich viel eher auf Matriarchats-Modelle verweisen, um die ich mich ja auch gekümmert habe, soweit man davon überhaupt etwas weiß. Da gibt es solche Überlieferungen, dass der König nur regieren konnte, wenn seine Schwester oder seine Mutter neben ihm waren und ihn im Grunde eingesetzt hatten. Er durfte auch nur eine bestimmte Zahl von Jahren regieren. Der „Jahreskönig“ wurde ja sogar umgebracht – all diese nicht sehr schönen Dinge. Das wollte ich auch mit einflechten, diesen matriarchalischen Hintergrund, der ja bei „Kassandra“ noch viel stärker ist: Die Vor- und Frühgeschichte des Patriarchats, dessen Spät-Geschichte heute mit der Vernichtung der Erde droht. Überhaupt ist es natürlich so, dass zwischen Kassandra und Medea enge Verbindungen bestehen und ein Teil der Vorarbeit, die ich zu „Kassandra“ gebraucht hatte, nun nicht mehr nötig war, weil ich diese Bücher und Theorien schon kannte. Da Sie danach fragen: Zu dem Kassandra-Stoff hat mich die atomare Kriegsgefahr über Europa Anfang der 80er-Jahre getrieben, die uns alle damals so bewegte. Ich fragte nach den Wurzeln dieser Selbstzerstörung. Wie verhält sich da der Einzelne? Wie verhält sich da eine Frau wie Kassandra, die privilegiert ist? Das darzustellen, darum ging es mir. Da hätte man ja damals auch sagen können: Ist ja klar, wer mit Kassandra gemeint ist. So direkt ist das nie gewesen, aber ein Stoff muss mich immer stark betreffen. : Sie haben „Medea“ ab 1992 geschrieben, 1996 erschien das Buch. Dazwischen lagen vier Jahre, in denen Sie, wie Sie es gelegentlich beschrieben haben, Sprachlosigkeit, Enttäuschung und Verletzungen, Resignation zu überwinden hatten. Nach so einer Periode erscheint „Medea“. Liegt es nicht nahe, darin auch eine Art Selbstbeschreibung zu vermuten?
: Nein. Bei all meinen Figuren, auch wenn einige davon nahe an mir sind, muss es immer diesen Zwischenraum geben, der mir noch einen „objektiven“ Blick auf sie gestattet und eine Distanz zulässt. In einer Zeit, in der ich in diese Konflikte direkt verwickelt bin, könnte ich nicht darüber schreiben, höchstens tagebuchartig. Sehen Sie, die Vorgänge, die in „Leibhaftig“ beschrieben sind, haben sich 1988 ereignet. Ich könnte nicht in dem Moment schreiben, wo es passiert, wo man dann direkt „ich“ sagen würde. Durch die zeitliche Distanz verändert sich das Erlebte auf eine geheimnisvolle Weise. Auch die Person verändert sich, und ich kann in aller Ruhe „sie“ sagen. Und dann zeigt sich, ob der Konflikt, den die Figur und vor ihr die Schreiberin durchlebt hat, einem gesellschaftlich belangvollen Widerspruch entspringt.

Was bewirkt Literatur?

: In einem Ihrer Interviews las ich diesen Satz: „Ich glaube nicht, dass ein Autor oder Literatur in dieser Gesellschaft etwas bewirken kann, im Sinne einer Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse.“
Aber ist er dann nicht um so nötiger als jemand, der sie beschreibt, interpretiert und damit Auseinandersetzung provoziert? Insofern würde ich Medea auf ihre Frage „Wohin mit mir? Ist eine Welt zu denken, eine Zeit, in die ich passen würde?“ antworten: „Diese Zeit ist keine gute für dich, vielleicht, aber sie braucht dich, mehr denn je, denn wer sollte sie den Menschen erklären?“ Wäre das Medea zuzumuten?
: Das ist eine schwierige Frage, obwohl es so aussieht, als wäre sie eindeutig beantwortet. Ich habe Briefe bekommen, besonders von Frauen, in denen sie es ablehnten, dass das Buch mit diesem Fluch endet. Es müsse am Ende doch eine Hoffnung bleiben und man müsse doch auch verzeihen können. Nun bin ich überzeugt, dass man manche Dinge nicht verzeihen kann und dass manchmal nur das Verfluchen übrig bleibt. Ich finde es im Fall Medeas angemessen. Im Oratorium ist sie als Solistin die vorletzte, die das tut. Nach ihr kommen der Chor und alle Solisten, und sie stellen fest, ohne zu werten: Niemand da, den sie fragen könnte. Das ist die Antwort. Wenn es so ist, soll man es sagen. : Der Text des Oratoriums endet fast genau wie jener im Roman, allerdings verstärken Sie für mein Empfinden den Eindruck der Ausweglosigkeit und Resignation noch, indem Sie den Chor die Szene beschreiben lassen. „Es bleibt der Himmel stumm. Wohin sie ihren Blick auch wendet.“ Darin schwingt viel Hoffnungslosigkeit...
: Brecht hat mal im Zusammenhang mit seiner „Mutter Courage“ gesagt, dass eine Wandlung nicht unbedingt auf der Bühne stattfinden muss. Schon wenn die Zuschauer sie als Notwendigkeit empfinden, ist es gut. Wir sind inzwischen fünfzig Jahre weiter. Und mir scheint, dass die Erde sich inzwischen in eine dunkle Richtung weitergedreht hat, merkwürdigerweise, obwohl es aussah, dass das nicht zwingend so wäre. Wenn so ein Oratorium dazu beiträgt, dass Zuschauer darüber nachdenken, ob Medea Recht hat, ist das ja auch was wert. Ich könnte nicht sagen, wenn mich einer fragen würde, auf Tod und Teufel: „Bist du denn der Meinung, dass es so ist, und dass keine Hoffnung ist?“ Darauf würde ich nicht so gern mit „ja“ oder „nein“ antworten wollen. Da guck ich immer, wo gibt es die Hoffnungsfelder? Der Mainstream läuft zurzeit in eine andere Richtung, scheint mir, aber ich seh die Hoffnungsfelder schon. Und natürlich kann ich gar nicht anders, als sie unterstützen zu wollen.

Christa Wolfs wichtigste Werke

1959 Moskauer Novelle
1963 Der geteilte Himmel
1968 Nachdenken über Christa T.
1972 Till Eulenspiegel
1973 Unter den Linden. Drei unwahrschein-liche Geschichten
1976 Kindheitsmuster
1979 Kein Ort. Nirgends
1983 Kassandra
1987 Störfall
1988 Sommerstück
1989 Was bleibt
1996 Medea
2002 Leibhaftig

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