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Composing While Black. Afrodiasporische Neue Musik Heute, hrsg. von Harald Kisiedu/George E. Lewis, Wolke Verlag, Hofheim 2023, zweisprachig Deutsch/English, 328 S., Abb., Notenbsp., € 29.00, ISBN 978-3-95593-262-6

Composing While Black. Afrodiasporische Neue Musik Heute, hrsg. von Harald Kisiedu/George E. Lewis, Wolke Verlag, Hofheim

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Lebenswege aus der Marginalisierung

Untertitel
Geschichten und Gespräche mit afrodiasporischen Komponist*innen Neuer Musik
Vorspann / Teaser

Composing While Black. Afrodiasporische Neue Musik Heute, hrsg. von Harald Kisiedu/George E. Lewis, Wolke Verlag, Hofheim 2023, zweisprachig Deutsch/English, 328 S., Abb., Notenbsp., € 29.00, ISBN 978-3-95593-262-6

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Afrodiasporische Komponist*innen haben in der europäischen Musikgeschichte wenig bis keine Sichtbarkeit. Europäische Konzert- und Opernprogramme geben kein ganzheitliches Abbild des zeitgenössischen kompositorischen Schaffens und entsprechen nicht der kulturellen Realität, wie der vorliegende Band zeigt. Damit füllt das Buch selbst eine Leerstelle: Harald Kisiedu spricht von einem Gatekeeping, das die Sichtbarkeit Schwarzer Neuer Musik in Europa limitiert. In mehreren Beiträgen berichten Autor*innen über Schwarze Neue Musik und beleuchten die Präsenz afrodiasporischer Komponist*innen in Europa, die schon Jahrhunderte zurückreicht, was wenig überraschen sollte.

Die Herausgeber verweisen einleitend auf die deutlich gewachsene Anzahl wissenschaftlicher Arbeiten zur Schwarzen Popularmusik und Jazz, während „klassische und experimentelle Komponist*innen der Afrodiaspora aus der Zeit nach 1950 nur wenig Beachtung gefunden“ haben und in der Musikwissenschaft wenig erörtert werden. Sobald Schwarze Musik das Stereotyp Jazz verlasse, verliere sie ihre Sichtbarkeit. Als besonders starke Auswirkung bezeichnen die Herausgeber die Ignoranz gegenüber experimentell ausgerichteten Schwarzen Komponistinnen in der Musikgeschichte der Nachkriegszeit.

Ein Kapitel ist dem Komponisten Anthony Davis (*1951) gewidmet, einem der bekanntesten US-amerikanischen Opernkomponisten seiner Generation und dem einzigen afrodiasporischen Komponisten, bei dem mehrere Opern in Auftrag gegeben wurden, die auch an den renommiertesten Opernhäusern der USA aufgeführt wurden, jedoch nicht in Europa oder im Vereinigten Königreich. Davis’ erste Oper „X: The Life and Times of Malcolm X“ (1985–86) ist ein prägendes Werk für afrodiasporische Erfahrungen, ein Opernstoff, der auch zuvor schon von Komponist*innen wie William Grant Still aufgegriffen worden war. Die zweite Oper des Komponisten, „Amistad“, uraufgeführt 1997, behandelt den von Mende-Gefangenen angezettelten Sklavenaufstand auf dem spanischen Schoner „Amistad“. 2019 entstand „The Central Park Five“ über fünf afroamerikanische und lateinamerikanische Teenager, die dreizehn Jahre für eine Vergewaltigung im Gefängnis saßen, die sie nicht begangen hatten. Das Werk gewann 2020 den Pulitzer-Preis für Musik.

Ein weiteres Kapitel enthält ein Gespräch der Herausgeber mit Alvin Singleton (*1940), dessen „Argoru II“ für Cello 1972 als erstes Werk eines Schwarzen Komponisten überhaupt bei den Darmstädter Ferienkursen aufgeführt wurde. Zwei Jahre später erhielt sein „Be Natural“ den Kranichsteiner Musikpreis. Mit zwei „Mestizo“ betitelten Werken – Mestizo bezeichnet Nachfahr*innen von Europäer*innen und der indigenen Bevölkerung – fängt er die Verschränkung ein, die zwischen europäischem und afrodiasporischem Musikleben schon lange existiert, aber wenig sichtbar geblieben ist.

Das Buch bietet in weiteren Kapiteln eine Einordnung der Komponistin und Dirigentin Tania León (*1943) in die US-amerikanische Musikgeschichtsschreibung, die – wie auch andere Künstler*innen – Labels und Identitätsetiketten wie „Schwarze Dirigentin“ oder „weibliche Dirigentin“ mit dem Anspruch ablehnte, einfach „Dirigentin“ zu sein; phänomenologische Analysen von Werken des Komponisten Andile Khumalo (*1978) und des Liederzyklus „Mothertongue“ von Charles Uzor (*1961) sowie Beiträge über narrative Sound­scape-Kompositionen am Beispiel des Stücks „Same Sun“ der Komponistin und Klangkünstlerin Jacqueline George (*1988). Thematisiert werden darüber hinaus Schwarze Oper, verschiedene während der Pandemie entstandene digitale Kurzfilme, die experimentelle Sängerin und Bewegungskünstlerin Elaine Mitchener (*1970) sowie der Fluxus-Künstler und -Mitbegründer Benjamin Patterson (1934–2016).

„Race“ und Identität bezeichnen die Herausgeber selber nicht als die bestimmenden Themen der Beiträge, obwohl beides offensichtlich ein nicht-Vorhandensein in europäischer Musikgeschichte impliziert. Viel mehr füllt der Band Leerstellen in der Musikwissenschaft, dokumentiert afrodiasporisches Musikschaffen in Werkanalysen, Gesprächen und Berichten. Der historische und politische Kontext ist dabei so werkimmanent wie bei auch in Europa arrivierten Komponist*innen. So reicht die transatlantische Sklaverei für Elaine Mitchener bis ins 21. Jahrhundert, wie sie in einem ebenfalls im Buch enthaltenen Gespräch über ihr Werk „Sweet Tooth“ (UA 2018) mit der Komponistin Hannah Kendall äußert: „[…] alles passiert in Echtzeit. In der Echtzeit, aus der ich stamme. Ich bin Körper einer Erfahrung von etwas, das einmal geschehen ist.“ Bücher wie „Composing While Black“ sollten alle, die sich mit europäischer Musikgeschichte befassen, gelesen haben.

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