Pamela M. Potter: Die deutscheste der Künste. Musikwissenschaft und Gesellschaft von der Weimarer Republik bis zum Ende des Dritten Reiches, Klett-Cotta, Stuttgart 2000, 416 S., 68 Mark
E s ist bezeichnend, dass erst jetzt, gut 50 Jahre nach dem Ende des Dritten Reiches, eine wissenschaftlich profunde Gesamtdarstellung der Musikwissenschaft in den Epochen der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus vorliegt. Noch bedeutungsvoller aber scheint es, dass sie aus amerikanischer Feder stammt. Fred K. Prieberg stellte seinem 1982 erstmals erschienenen Buch „Musik im NS-Staat“ die Frage Joseph Wulfs voran, „warum gerade ein polnischer Jude als Außenseiter nach Deutschland kommen musste, um über ‚Musik im Dritten Reich’ zu schreiben und warum dies bis heute kein deutscher Fachmann getan hat“. (Priebergs Buch übrigens wurde dankenswerterweise kürzlich vom Kölner Dittrich-Verlag wieder aufgelegt.) Somit nimmt es nicht wunder, dass ebenso die zuletzt erschienenen Publikationen zu dem Thema aus nationaler Distanz heraus geschrieben wurden, so Michael H. Katers „The Twisted Muse“ (Europa-Verlag, 1998) und „Sonderstab Musik“ von Wilhelm de Vries (Dittrich-Verlag, 1998). Auch andere Disziplinen scheinen mit dieser Problematik zu kämpfen; die Überschrift zu einer Besprechung des Buches „Versäumte Fragen. Deutsche Historiker im Schatten des Nationalsozialismus“ spricht Bände: „Schweigen im Konsens. Erst jetzt fragen deutsche Historiker nach der Rolle ihres Faches im ‚Dritten Reich’“ (Die Zeit, 27.7. 2000). Gewiss, es wirft einen dunklen Schatten auf die deutschen Musikwissenschaftler der Nachkriegszeit, dass sie eine umfassende Studie über das Thema bislang nicht verfass-ten. Andererseits schrieb Potter eine überaus lobenswerte Arbeit, die neben ihrer Gründlichkeit auch durch die Sachlichkeit und Nüchternheit des Tonfalls besticht, dessen ein deutscher Schreiber vielleicht nicht fähig gewesen wäre. Die Autorin widerlegt die Auffassung, dass 1933 ein radikaler Bruch vollzogen worden sei: „Die Musikwissenschaft (konnte) nicht entnazifiziert werden, weil sie im Dritten Reich an sich nicht ,nazifiziert’ worden war, sondern einen Weg weiterverfolgte, den sie bereits vor 1933 eingeschlagen hatte. Diesen Weg konnte sie im Dritten Reich fortsetzen und von der staatlichen Unterstützung profitieren, die sie ihrer Befähigung, nationalsozialis-tischen Zielen zu dienen, verdankte. Dieser Weg nahm weder spontan nach Hitlers Aufstieg seinen Anfang, noch wurde er nach seinem Fall kompromisslos verlassen, sondern setzte sich nach 1945 in irgendeiner Form fort.“ Vielleicht wurzelt gerade hierin die Scheu der deutschen Musikwissenschaftler, sich mit der jüngeren Vergangenheit ihrer Disziplin auseinander zu setzen.
Die Musikpolitik der Nationalsozialisten lief darauf hinaus, Organisationen zu unterstützen, deren Ziele mit dem kulturpolitischen Programm übereinstimmten. Folglich suchten sich die Institutionen durch „interne Gleichschaltungen“ anzupassen; das Aufblühen der Rassenkunde, das schon krampfhafte Bemühen, typisch deutsche Wesensmerkmale bei Komponisten aufzuspüren (die „Entanglisierung“ Händels erscheint in diesem Zusammenhang als typisch), waren notwendige Begleiterscheinungen.
Nur zwei Juden, Curt Sachs und Erich von Hornbostel, hatten in der Weimarer Zeit Ordinarien inne. Selbst die Habilitation des Juden Alfred Einstein, der einer der vehementesten Verfechter des deutschen Nationalbewusstseins in der Musik war und als der kompetenteste Experte auf den Gebieten des italienischen Madrigals und der Werke Mozarts galt, wurde systematisch verhindert. Nach der Machtergreifung Hitlers verließ eine große Anzahl von „nicht-arischen“ Musikwissenschaftlern das Land. Dadurch erlitt die Musikwissenschaft trotz der quantitativen Bereicherung, die sie nach 1933 erfuhr, einen erheblichen Qualitätseinbruch. Proteststimmen gegen das Nazi-Regime wurden unter den Musikwissenschaftlern erschreckend selten laut. Einer der wenigen, die sich auch öffentlich gegen die Rassenpolitik aussprachen, war Johannes Wolf. Des weiteren enthüllt Potter die überraschende Tatsache, dass das „Weiße-Rose“-Mitglied Kurt Huber, dem der Mythos des Wider-ständlers der ersten Stunde anhaftet, zunächst Parteimitglied war und erst 1942, als sich schon der Verlauf des Krieges abzeichnete, in die Opposition wechselte.
In ihrem letzten Kapitel geht die Autorin auf die Entnazifizierung ein und zieht erschreckende Bilanzen. Das Verfahren wurde begleitet von Lügen, Entstellungen, Verschweigen und Nachlässigkeiten. Die Opfer des Regimes wurden nicht wieder eingestellt, während viele Wissenschaftler der NS-Zeit auch nach dem Krieg Karriere machten. Bekannte Namen tauchen auf, unter anderem Friedrich Blume, der bis in die 60er-Jahre He-rausgeber des wohl ambitioniertesten musikwissenschaftlichen Projektes nach dem zweiten Weltkriegs war, der MGG. (Diese enthält in der Ausgabe von 1961 noch braune Spuren: In der Bibliografie zum Kapitel Musikwissenschaft befindet sich ein Abschnitt zur „Rassen- und Volkstumskunde“, der unter anderem einschlägige Literatur aus der NS-Zeit auflistet.) Leider unterlässt Potter es, die Nachkriegskarriere Herbert Gerigks zu enthüllen, der neben Hans Joachim Moser in ihrem Buch die herausragende dämonische Gestalt ist. Gerigk, der Leiter des „Sonderstabs Musik“, gab zusammen mit Theophil Stengel das „Lexikon der Juden in der Musik“ heraus.
Alles in allem offenbart die nationalsozialistische Geschichte den immanenten politischen Charakter der Musikwissenschaft und folglich ihre Anfälligkeit für die Gefahr, durch politische Kräfte ausgenutzt zu werden, zumal – und dies betrifft gewiss auch die anderen Geisteswissenschaften – in Zeiten des Übergangs. Zu Recht mahnt die Autorin in ihrem Fazit: „Die Situation der Musikwissenschaft im Dritten Reich liefert ein frappierendes Beispiel dafür, wie die unkritische Akzeptanz theoretischer Trends und Schlagwörter sich zu verselbstständigen und zerstörerische Kräfte freizusetzen vermag.“