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Miniaturen und ein Monolith: Thomas Günther spielt Klavierwerke von Arthur Lourié und Sergej Protopopov

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Es wird gerne vergessen, dass im bereits überall gärenden zaristischen Russland, also noch bis in den Ersten Weltkrieg, ein reger künstlerischer Austausch zwischen Russland und Westeuropa stattfand, und es nach Ende des Bürgerkriegs, zumindest zu Lebzeiten Lenins, ausdrücklich begrüßt wurde, wenn einheimische Künstler ganz vorne in der Avantgarde mitmischten. Die junge Sowjetunion versuchte, dem kapitalistisch-dekadenten Westen auf allen Gebieten Paroli zu bieten, ja ihn womöglich zu übertreffen.

Allerdings wäre Arthur Vincent Lourié (1892-1966, der Künstlername des wohlhabenden sephardischen Juden leitet sich von Schopenhauer und van Gogh ab) kaum der rechte Mann dafür gewesen, sich vor einen propagandistischen Karren spannen zu lassen; zudem war er längst zum Katholizismus konvertiert. Als noch sehr junger Komponist machte er in den sieben Jahren zwischen seinem op. 1 („Cinq Préludes fragiles“, 1908) und den sagenumwobenen, dabei nach wie vor selten erklingenden „Formes en l'air“ (1915) eine enorme Entwicklung durch. Sicher, seine pianistischen Vorbilder sind anfangs noch evident, aber erstaunlich früh findet er zum eigenen, zauberischen Ton, der zunehmend vor den überlieferten Formen und funktionalen Harmonien in die Abstraktion zurückweicht.

Vermutlich unter dem Einfluss der Zweiten Wiener Schule (Schönbergs Klavierstücke op. 11?) geht er weit über den immerhin noch lebenden Skrjabin hinaus: Die einerseits zusammenfassenden, andererseits zu neuen Ufern aufbrechenden „Synthèses (Délires)“ von 1914 tragen nicht zufällig als letzte eine Opuszahl (Nr. 16). Den zuvor allgegenwärtigen „Poèmes“ verleiht er die kristalline Härte und Konzentration eines Webern – mit dem wesentlichen Unterschied allerdings, dass gelegentliche Motivwiederholungen keinem Tabu unterliegen.

Die Pablo Picasso gewidmeten „Formes en l'air“, die außerdem Bezug nehmen auf die Definition von Musik als „tönend bewegte Formen“, bewegen sich von der konkreten Poesie des Vorgängers in Richtung graphischer Partitur. Wie zuvor leben Konsonanzen und Dissonanzen in trauter Eintracht miteinander; Dogmatismus jeder Art schien Lourié fremd zu sein. Der „Tagesplan“, noch aus demselben Jahr, weist in seinem Hang zu neoklassischer Motorik, rhythmischen Ostinati und vereinfachter Harmonik schon auf die Neue Sachlichkeit voraus, ohne dass Lourié seine poetischen Anfänge verriete: Die irritierende fünfte und letzte Station dieses Tagesablaufs („Mutwille“) wirkt bereits wie die Zwergenausgabe einer Sonate von Protopopov.

Während Lourié – gemessen an der Ausdehnung seiner Stücke – stets Miniaturist blieb, hat sich Sergej Protopopov (1893-1954) in seinen wenigen bekannt gewordenen Werken auch an größeren Formen gemessen, namentlich in seiner (bereits auf Vol. 1 enthaltenen) zweiten und der hier eingespielten dritten Klaviersonate. Letztere stellt derart hohe Anforderungen an ihren Interpreten, dass ich nur eine einzige weitere Aufnahme im Rahmen einer Melodiya-Anthologie entdecken konnte. Die 1928 abgeschlossene, in jeder Hinsicht schwer zugängliche Partitur „konfrontiert uns mit einem monolithischen, bedrohlichen, streckenweise maßlosen Riesensatz“ (Thomas Günther) in Form einer Passacaglia. Protopopovs späteres Verstummen als Komponist ist sicher auch den Zeitläuften geschuldet: In den dreißiger Jahren landete er mehrfach im GULag.

Steffen Schleiermacher, Daniele Lombardi und Benedikt Koehlen haben sich in den letzten zwanzig Jahren mit ähnlichen Repertoirezusammenstellungen um den frühen Lourié verdient gemacht (der spätere, der nach Frankreich und Amerika emigrierte, wäre ein eigenes Kapitel wert); mit Thomas Günther, der die neue, auf vier Teile angelegte Anthologie auf Cybele verantwortet, wurde nicht nur ein ausgewiesener Experte für die russische Avantgarde gewonnen, sondern auch ein vorzüglicher Musiker, der zudem das Glück hat, seine erfolgreichen Bemühungen durch ein (wie eigentlich stets bei Cybele) vorbildlich klares SACD-Klangbild unterstützt zu sehen.

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