Don Giovanni lebt in der Bronx und Sarastros Reich liegt andernorts als von Schikaneder beschrieben – die „Zauberflöte“ spielt unterm Highway: Cop und Komtur, Koloraturen und Karossen, Blaulicht und Ballett – Mozart im 20. Jahrhundert.
Don Giovanni lebt in der Bronx und Sarastros Reich liegt andernorts als von Schikaneder beschrieben – die „Zauberflöte“ spielt unterm Highway: Cop und Komtur, Koloraturen und Karossen, Blaulicht und Ballett – Mozart im 20. Jahrhundert.D er Zankapfel ist nicht gegessen und wird es wahrscheinlich nimmer: Ist die Oper, zumal der vergangenen vier Jahrhunderte, noch zeitgemäß? Wie kann sie heute wirken? Lässt sich mit der Oper des 18. Jahrhunderts das 20. Jahrhundert erklären? Peter Sellars Mozartinszenierungen, seine Versuche, sie gegenwärtig zu machen, polarisierten die Operngemeinde. „Endlich!“, jubelten die einen. Endlich jemand, der diesen alten Opern den Staub der Jahrhunderte aus den Kostümfalten bläst und sie von der Bühne holt, hinein in die Gegenwart! „Ganz und gar und unmöglich!“ hielten die anderen dagegen. Was hat das noch mit Mozart zu tun?! Zeitgeist auf Biegen und Brechen. Und die dramaturgische Kreativität, so scheint es, beschränkt sich auf Äußerlichkeiten, wenn sie Parallelen und Verbindungen ins Heute versucht, die weder Libretto noch Musik zu leisten vermögen. Was also tun? Die Opern zurücklassen in den Schaukästen der Musikgeschichte? „Ausstellungsstück! Bitte nicht berühren!“? Oder doch Aufstand im Museum?Als Webers „Freischütz“ am 18. Juni 1821 am Berliner Gendarmenmarkt mit wahrhaft sensationellem Erfolg uraufgeführt wurde, saß inmitten damaliger Prominenz auch ein Kritiker der „Vossischen Zeitung“ – es war kein geringerer als der Dichter und Komponist E.T.A. Hoffmann. Wir wissen, wie sehr Weber die Rezensionen Hoffmanns zum „Freischütz“ gekränkt hatten. Ihr spöttischer Ton und die nadelstichähnlichen Attacken auf das Werk wiesen den Kritiker als Anhänger Gaspare Spontinis aus, jenes vom Berliner Hof gehätschelten Komponisten und Generalmusikdirektors der Hofoper, und damit gleichwohl Kontrahent Webers. Hoffmann jedoch beschrieb treffend den kulturellen Hintergrund, vor dem er die Uraufführung des „Freischütz“ erlebte, charakterisiert schon damals vom ständig wachsenden Bedürfnis nach schauriger Unterhaltung. „Das Höchste, wozu der exaltierteste Geist auf dieser Richtung gelangen konnte, ward ersonnen in der Erzählung ‚Der Vampir‘“, schrieb er. „Und dieser Vampirismus ist es denn, der in der Poesie des Augenblicks (und nicht nur in Deutschland) allmächtig spukt. Man will nicht ergriffen, nicht gerührt, man will gepackt, geschüttelt werden, es soll sich das Haar sträuben, der Odem stocken – und die Poesie hat ihre Wirkung getan!“ Tatsächlich findet man in der Rezeptionsgeschichte des „Freischütz“ neben dem Umgang mit diesem ungeheuer vielfältigen musikalischen Material auch jenen Aspekt bestätigt: die „Wolfsschlucht“, das Gießen der Freikugeln, Samiels Erscheinen und schließlich Kaspars schauriges Ende im Finale – je aufwendiger die Inszenierungen desto wirksamer das Stück. Aber abgesehen davon, dass das Publikum von heute übersättigt ist von Reizen, von denen damals noch gar keine Rede sein konnte – hat eine „Märchenoper“, die zu Zeiten des Dreißigjährigen Krieges spielt, überhaupt noch Bestand im Zeitalter von „Mickey Mouse“ und „Lara Croft“? Von Rudolph Kempe über Wilhelm Furtwängler, Karl Böhm, Carlos Kleiber und Nikolaus Harnoncourt – die Antworten auf diese Frage, so unterschiedlich sie bislang ausfielen, erfahren jetzt eine eindrucksvolle Ergänzung. Im Mai 2001 dirigierte Bruno Weil, der schon mit dem vielbeachteten „Endimione“ Johann Christian Bachs einen Überraschungscoup gelandet hatte, in Köln und Potsdam eine konzertante Aufführung des „Freischütz“. Musikalisch wie dramaturgisch eine bemerkenswerte künstlerische Unternehmung, die, wiederum in Kooperation mit dem WDR, jetzt bei Deutsche Harmonia Mundi (dhm-BMG Classics) erschienen ist.
Was aber gab es an einem „Freischütz“ Neues zu entdecken oder zu gestalten, das nicht längst gewusst und umgesetzt wurde? Etwa eine „moderne“ Inszenierung im oben genannten Sinne: Max und Kaspar in der Kluft der Paschtunen, ausgerüstet mit Maschinengewehren irgendwo in den Bergen Afghanistans – und Samiel mit den Zügen Osama Bin Ladens? Gottlob: nein! Und zeitgemäß dennoch. Bruno Weil stieß sich, wie wahrscheinlich jeder Dirigent oder Regisseur, der sich des „Freischütz’“ annimmt, an den Schwächen des Librettos von Friedrich Kind und damit auch an den dramaturgischen Laxheiten. Sie werden besonders da offenbar, wo, den Gesetzen des Singspiels entsprechend, gesprochene Dialoge den musikalischen Fluss ritardieren, gar unterbrechen, um die Handlung zu erklären und voranzutreiben. Für Weil ist es grundsätzlich von Nachteil, dass, wenn man Opern konzertant spielt oder aufnimmt, die Dialoge immer irgendwie künstlich klingen, nicht dazugehörig. Diese Erfahrungen, sagt er, habe er immer wieder machen müssen. „Bis wir es 1986 in Wien bei Schuberts ‚Des Teufels Luftschloß‘ mal mit einem Sprecher probiert haben“, erzählt er. „Es hat hervorragend funktioniert. In diesem Fall nun kommt etwas hinzu, woran bei Schubert nicht zu denken war: Man kann heute davon ausgehen, dass die Handlung des ‚Freischütz’ bekannt ist.“
Eingedenk dieser Erfahrung schlug Bruno Weil vor, die sprachlich schwachen Dialoge durch neue Zwischentexte zu ersetzen – um die eigentliche Problematik des Stückes in einem Ausdruck zur Sprache zu bringen, wie man sie heute spricht. Die eigentliche Problematik? „Das ist doch ein ‚Stress-Stück’ par excellence! Es geht um Prüfungsängste jeglicher Form. Ein Mensch wird unter Druck gesetzt – das passiert heute, wie vor 200 Jahren! Ein Mensch verliert seine Kontrolle und ist zu irrationalen Handlungen bereit. Er lässt sich sogar mit dem Teufel ein, und es ist die Gesellschaft um ihn herum, die ihn letztlich dazu treibt – darum geht es in diesem Stück.“ Weil, für den Webers Musik diese psychologische Situation auf unglaubliche Weise schildert, kommt es darauf an, zu zeigen, dass der „Freischütz“ nicht einfach nur ein Märchen aus dem Dreißigjährigen Krieg ist.
Steffen Kopetzky, ein junger Romancier, Theaterdichter und Ingeborg-Bachmann-Preisträger, wurde für diese Unternehmung gewonnen und sein Beitrag verleiht dem Stück dramaturgisch eine ungewöhnliche Perspektive – der anonyme Erzähler bekommt einen Namen: Samiel. Der Zuhörer erlebt Max’ Konflikt mit der „Leistungsgesellschaft“, maßgeblich repräsentiert durch Kuno, den Erbförster, den reichen Bauern Kilian und letztlich auch durch Agathe, aus der Sicht des Schwarzen Jägers, der die Vorgänge kommentiert und die ihnen innewohnende fatalistische Gesetzmäßigkeit aufzeigt. Natürlich gibt es einen Bruch zwischen der Sprache Kinds und der Kopetzkys. Dieser, in dem Bemühen zu abstrahieren und zugleich zu erzählen, verdichtet sprachlich, was Kind in seinem Libretto nur ansatzweise zu denken imstande war.
An dieser Stelle sei die glückliche Hand bei der Auswahl des Sprechers hervorgehoben. Die Auftritte des Schauspielers Markus John als Samiel, sowohl bei den Konzerten in Köln und im Potsdamer Nikolai-Saal als auch bei der Aufnahme lassen diesen in einer verblüffenden Momentaufnahme des Bösen mitten unter uns erscheinen, jenes denkenden, schwarzen Über-Ichs, dessen Ansichten zuweilen auf beklemmende Art plausibel sind: „...Ihr wollt aus eurer Mitte Menschen fallen sehen/Und wenn ihr seht, wie einer stirbt, erschreckt ihr euch. Ihr denkt, zu töten wäre schwer. Wo kommen all die Toten her?“
„Was gleicht wohl auf Erden dem Jägervergnügen...?“ Wie subtil wird damit jenes romantische Pathos konterkariert, das so oft im Jägerchor hineininterpretiert wird! Weber kann dieses Pathos nicht gewollt haben – wie sonst ist es zu erklären, dass die Ouvertüre ohne jeden Hinweis gerade auf dieses Stück bleibt?!
Im wirkungsvollen Kontrast zu diesem durchaus modernen inhaltlichen Ansatz steht nun die musikalische Umsetzung: Bruno Weil wählte für die Einspielung mit der „Capella Coloniensis“ ein Orchester aus, das auf Originalinstrumenten musiziert. Und wie! Was zum Beispiel die Naturhörner bereits in der Ouvertüre von sich geben, verursacht tatsächlich so eine Mischung aus Konzertsaal und abendlichem Halali vor felsiger Kulisse.
Beim Orchester ging man, orientiert an Mozart, von einer Besetzung aus, wie sie im frühen 19. Jahrhundert in den Orchestergräben anzutreffen war. Darüber hinaus unternahm Bruno Weil wieder einmal, wofür er inzwischen bekannt ist: eine Reise in die Originalpartitur. Er trug all die Schichten ab, die sich im Laufe der letzten 180 Jahre auf dem Original „abgelagert“ hatten. „Wir hatten das große Glück, aus der Kopie des Originalmanuskripts arbeiten zu können“, erzählt er. „Alle Musiker hatten das vor sich liegen. Wir haben nur gespielt, was bei Weber im Manuskript steht – sonst gar nichts. Jede Phrase wurde kontrolliert: Wie war die Originalnotation? Hat es im Laufe der Jahre Veränderungen gegeben? Falls ja, haben wir sie wieder rückgängig gemacht, reduziert, zurückgeführt auf den Willen des Komponisten.“ Großartiges leistet in diesem Zusammenhang der Chor, der sich bei genauester Artikulation mit Orchester und Solisten gleichermaßen im Einklang befindet. Seine Stärke auf dem Gebiet der Intonation stellt er eindrucksvoll unter Beweis an Stellen, die aufgrund der Instrumentierung nicht ohne Tücken sind: etwa im Terzett des ersten Aufzuges, wo er in den Klang der Naturhörner eingebettet ist.
Besonderes Augenmerk legte Weil auch auf die Auswahl der Sänger. Der Max ist in vielen Aufnahmen mit Heldentenor besetzt worden. „Der ist ja nun alles, bloß kein Held! Sowohl als Figur, wie auch als Stimme nicht!“, entgegnet Weil. „Seine Partie in dieser Oper ist von vorn bis hinten lyrisch. Das ist, denke ich, ein Hauptfehler, der immer wieder gemacht wird: den Max mit einem Wagner-Tenor zu besetzen – von Wagner konnte zur Uraufführung des „Freischütz“ noch keine Rede sein!“ Christoph Prégardiens „Max“ vereint denn auch beides in sich, sowohl jenen Lied-Gestus, wie er kultivierter als in der Arie „durch die Wälder, durch die Auen“ kaum in Erscheinung treten kann, als auch alle Charakterlichkeit, die der Rolle innewohnt. Sehen, ohne alles gezeigt zu bekomen, hören, ohne dass alles ausgesprochen wird – wo die Oper das (wieder) vermitteln kann, ist sie heutiger denn je.
Carl Maria von Weber: Der Freischütz; Gerhaher, Prégardien, Zeppenfeld u.a., WDR Rundfunkchor Köln, Bruno Weil
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