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Ekstase, eremitisches Naturstaunen, Schillerndes

Untertitel
Zum Start der Eduard-Tubin-Gesamtausgabe erscheinen Symphonien und Klavierwerke
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Eduard Tubin: Tubin Complete Works, Serie 1, Vol. V: Symphonien Nr. 9–11 (GE 11303); Serie 4, Vol. XVIII: Klavierwerke (GE 10977), Gehrmans Musikförlag, Stockholm

Nachdem vor einigen Jahren eine Neuausgabe seiner Dritten Symphonie erschienen war, haben nun die Esten und die engagierten Köpfe der Eduard-Tubin-Society in Zusammenarbeit mit dem schwedischen Gehrmans-Musikverlag endlich die Eduard-Tubin-Gesamtausgabe gestartet. Tubin (1905–1982), wie später Arvo Pärt, Jaan Rääts und Lepo Sumera Schüler des legendären Heino Eller (1887–1970), war 1944 auf der Flucht vor der in Tallinn einmarschierenden Roten Armee nach Schweden emigriert, wo man ihn als den führenden estnischen Komponisten lange ignorierte und ihm erst gegen Ende seines Lebens die gebührende Anerkennung zukommen ließ. Vor allem via Tonträger hat sein Schaffen nach seinem Tode, dank des Engagements estnischer Dirigenten wie Neeme und Paavo Järvi oder Arvo Volmer, nach und nach weltweite Beachtung gefunden als dasjenige eines geborenen Symphonikers, der in seinen stärksten Werken gleichberechtigt neben Schostakowitsch, Prokofieff, Hindemith und Honegger steht.

Stilistisch waren zweifellos die gänzlich unorthodoxe Meisterschaft Jean Sibelius’ und die auf der Grundlage melodisch-rhythmischer Ursprünglichkeit entwickelte harmonisch-kontrapunktische Elaboration Béla Bartóks von starkem Einfluss auf Tubin, der einen ganz eigenen Ton zwischen Norden und Osten entdeckte und kultivierte. Im Kern ein introvertierter Lyriker, verstand er es, orgiastische Rhythmik (gelegentlich unter ungezwungener Einbeziehung „trivialer“ Tanz-Elemente) und massive orchestrale Auftürmungen zu entfesseln. Diese so entgegengesetzten Charakteristika verleihen seiner Musik in der Gleichzeitigkeit von leidenschaftlicher Ekstase und eremitischem Naturstaunen etwas sphinxhaft Schillerndes.

Tubin war sowohl ein souverän fesselnder Meister der großen Formen als auch ein bezaubernder Miniaturist. Von den zwei nun erschienenen Gesamtausgabe-Bänden enthält der eine seine gesamte Klaviermusik mit Ausnahme der beiden großen Sonaten und der Sonatine (die in einem zweiten Band erscheinen werden) sowie alle Skizzen, Erstfassungen und unvollendeten Stücke (die nicht zur Herausgabe vorgesehen sind), herausgegeben von dem Esten Vardo Rumessen, der mit Tubin in engem Kontakt war und auch als Pianist die beiden ersten Gesamteinspielungen verantwortete. Eine übersichtlichere Gliederung der im Vorwort recht unübersichtlich präsentierten Fakten wäre wünschenswert gewesen. Und wie soll man den folgenden Satz verstehen: „All markings, dynamics, phrasing, notations in square brackets and markings with dotted lines are the editor’s“? Ja, man muss da schon genau hinschauen, um zu verstehen, dass es sich nicht um eine „Bearbeitung“ des Herausgebers handelt. Für den Pianisten, der etwa Bartók, Sæverud oder Schostakowitsch mag, enthält dieser Band eine kaum auszuschöpfende Fülle von Stücken in kleineren (14 Préludes und 14 Folklore-Bearbeitungen) und größeren Formen von sehr unterschiedlichen technischen und musikalischen Ansprüchen.

Als erster Band von Tubins Symphonien sind die letzten drei, Nr. 9 bis 11, erschienen. Dass Tubin die Neunte (1969) als „Sinfonia semplice“ bezeichnete, befremdet bei der höchst kunstvollen thematischen Arbeit kaum weniger als einst bei Carl Nielsen, der seiner hochkomplexen Sechsten den gleichen Titel beigegeben hatte. Nachdem die gewaltigen vorangegangenen Symphonien stets drei oder vier Sätze umfasst hatten, ist die Neunte zweisätzig, mit starken Kontrasten innerhalb derselben.

Die Zehnte (1973) umspannt gar innerhalb eines einzigen Satzes (wie in Sibelius’ Siebenter), verbunden durch eine Art Motto-Motiv und vielerlei thematische Bezüge, die kontrastierenden Charaktere einer mehrsätzigen Symphonie (Adagio-Rahmen, sonatenartiges Allegro, Scherzo mit Trio). Sie ist ein wahres Meisterwerk lebendiger Architektur. Seine 1978 begonnene Elfte wollte Tubin eigentlich wieder in vier Sätzen anlegen, und die ersten drei Sätze waren in seinem Kopf fertig, doch gelang es ihm nur noch, das vollendete Particell des Kopfsatzes beinahe zu Ende zu orchestrieren, wobei die Orchestration der letzten 72 Takte nach seinem Tode (im Auftrag Neeme Järvis) von dem nach Kanada emigrierten estnischen Symphoniker Kaljo Raid (1921–2005) fertiggestellt wurde. Dieser Satz ist – untypisch für Tubin – ein kontinuierliches Allegro vivace con spirito, und was dann gekommen wäre, steht in den Sternen. Möge diese (im Kommentar von Herausgeber Edward Jurkowski sehr spärlich dokumentierte, im Notensatz hingegen ansprechende) Ausgabe ein Ansporn sein, Tubins wertvolles und substanzielles Schaffen als einer der bedeutendsten Symphoniker der klassischen Moderne weltweit im Konzertleben bekannt zu machen.

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