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Gradus ad parnassum für den Virtuosen

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Anspruchsvolle neue Klaviermusikeditionen · Von Peter RoggenkampBis zur Mitte des 19. Jahrhunderts traten Komponisten meist auch als Interpreten eigener Werke am Klavier auf. In einer Kombination beider Berufe in einer Person spielten beispielsweise Mozart, Beethoven oder Chopin fast ausschließlich eigene Stücke. Franz Liszt etablierte den sogenannten „Klavierabend“, indem er nicht nur eigene Werke, sondern auch solche von Bach bis zur Gegenwart aufführte. Zugleich setzte eine Spezialisierung einerseits in Komponisten und andererseits in Pianisten ein, wenn man von Ausnahmefällen wie Skrjabin und Rachmaninow absieht. Für Klavierspieler ist es wohltuend, wenn Komponisten auf Erfahrungen als konzertierende Pianisten zurückblicken können. In solchen Fällen darf erwartet werden, daß die Stücke – unabhängig vom jeweiligen Schwierigkeitsgrad – instrumentengerecht geschrieben sind. Dies Kriterium erfüllt der Nürnberger Werner Heider (1930), der bereits ein umfangreiches Oeuvre vorgelegt hat, sowohl für Kinder wie auch für Erwachsene und für professionelle Virtuosen. Der Sikorski-Verlag hat unter der Verlagsnummer „H. S. 1575“ Heiders „Klavier-Spielplatz (Zwölf Stücke für die Jugend)“ aus dem Jahre 1994 publiziert. Es handelt sich um eine Sammlung von kürzeren, meist zwei Seiten umfassenden Kompositionen, die im Schwierigkeitsgrad etwa mit dem vierten Band von Bartóks „Mikrokosmos“ korrespondieren. Der Autor meidet Griffe, die eine Oktave überschreiten; seine Vorstellungen vom Pedalspiel hat er genau notiert. Neuere Spielweisen wie kleine Cluster oder Nachhallwirkungen durch stummen Tastendruck integriert er unaufdringlich und in vorsichtiger Dosierung. In Nr. 2 („Wo ist der zwölfte Ton?“) spielt nur die rechte Hand reale Anschläge, während die linke zwölf verschiedene Tasten – nacheinander und jeweils durch Pausen unterbrochen – stumm niederdrückt. Der Titel gibt dem Lehrer Gelegenheit, seinem Schüler Zwölftönigkeit zu erklären: Heider arbeitet in der rechten Hand mit Gruppen von jeweils elf Tönen, der fehlende zwölfte ist der tonlos Anzuschlagende des nächsten Abschnitts. In Nr. 6 („Monster“) soll der Schüler zusätzlich zum Notentext „auf Sch zischen“ und sprechen: die Worte „eins-zwei-drei-vier-fünf-Monster“ bilden den Abschluß. In Stücken wie Nr. 8 („Trommler“) und Nr. 12 („Trott-Fox“) schlägt sich die Erfahrung des Komponisten mit Jazz-Elementen nieder. Die Sammlung „Klavier-Spielplatz“ von Werner Heider bildet einen Gewinn für jugendliche wie für erwachsene Klavierspieler. Der Kanadier Glenn Gould (1932-1982), einer der größten Pianisten dieses Jahrhunderts, ist längst zur Legende geworden. Zu den Komponisten, denen sein besonderes Interesse galt, zählte neben J. S. Bach auch Arnold Schönberg. Gould schrieb eine Reihe von Aufsätzen über letzteren und spielte dessen Klavierwerk ein. Seine eigenen Kompositionen „Five short Pieces“ aus dem Jahre 1951 und „Two Pieces“ von 1951/52 sind Zeugen einer intensiven Auseinandersetzung mit Schönberg und der Zwölftonkomposition. Der Schott-Verlag ediert diese Werke des noch jugendlichen Schönberg-Bewunderers unter der Editionsnummer ED 8319: „Glenn Gould. Klavierstücke“. Die durchsichtig angelegten Sätze sind teils zwölftönig, teils in freieren Techniken konzipiert. Das Schriftbild ähnelt dem der zwei- und dreistimmigen Inventionen von Bach. Die Ausgabe vermittelt einen Einblick in ein historisches Dokument; sie zeigt, mit welcher Intensität ein hochintelligenter, großer Pianist sich die Welt von Bach und Schönberg vertiefend erarbeitet hat. Der Verlag Breitkopf & Härtel hat unter der Nummer EB 9097 ein Werk von Bernd Franke veröffentlicht: „For WOLS (It’s all over. Four Pieces for Piano)“. „Die Widmung und der Untertitel der Komposition beziehen sich auf das unruhig-tragische Leben und auf verschiedene Bilder – ‚It’s all over‘ ist eines davon – des großen deutschen abstrakten Malers WOLS, der 1913 als Wolfgang Schulze in Berlin geboren wurde, in Dresden aufwuchs und frühzeitig, mit nur 38 Jahren, im Jahre 1951 in Paris starb“, schreibt der Komponist als Vorwort. Er gibt keinen Hinweis auf einen etwaigen direkten Bezug zwischen einzelnen Bildern und einzelnen Sätzen. Jedes der vier Stücke von insgesamt zwölf Minuten Dauer besitzt ein ganz eigenes Profil. Auffällig ist ein ausgesprochener Sinn des Komponisten für differenzierte Klangfarben. Das erste wird – bei langsamem Tempo (Achtel = 60) – von ostinaten Tönen in der Mittellage beherrscht, die zumeist ppp zu spielen und durch Pedal zusammenzuhalten sind. Ähnlich ist Nr. 3 angelegt, mit einem Tempo von ebenfalls Achtel = 60 und einem ostinaten c’. Nr. 2 bildet einen starken Kontrast dazu, einerseits durch virtuoses Laufwerk in der untersten Region des Instruments, andererseits durch Nachhallwirkungen, die in der rechten Hand durch stummes Aushalten von Tasten erzeugt werden. Durch die Besessenheit, mit der eine kreisende Figur bei Gegenbewegung des Tonmaterials in ständig neuen Varianten verarbeitet wird, wirkt Nr. 4 realer als die drei anderen. Das rechte Pedal ist hier nicht gefragt, doch verzichtet der Komponist nicht auf Nachhallwirkungen; an drei Stellen wird ein kleiner Cluster auf schwarzen Tasten angeschlagen und mittels Tonhaltepedal arretiert. Bernd Franke hat in „For WOLS“ extreme technische Schwierigkeiten gemieden; die Notation läßt keine Wünsche offen. Der gestaltete Reichtum an Klangfarben ist das auffälligste Merkmal der Komposition. Sie ist besonders für Spieler zu empfehlen, die über einen nuancenreichen Anschlag verfügen und zudem die innere Ruhe besitzen, das Verrinnen der Zeit zu gestalten. Der Sikorski-Verlag hat in den letzten Jahren sein Repertoire an Klaviermusik in erfreulicher Weise erweitert. Zu den Neuerscheinungen gehört auch ein Werk von Edison Denissow, der als Klavierkomponist bereits mit etlichen Werken hervorgetreten war, bevor er die folgende Rarität schrieb: „Punkte und Linien für zwei Klaviere achthändig“ (Edition Sikorski 1835). Denissow verfaßte die Komposition von etwa 12 Minuten Dauer 1988 für das Orgella Kwartet, das sie im selben Jahre in Amsterdam uraufführte. Berühmte Komponisten, beispielsweise Bach, Czerny, Strawinsky, Milhaud und Feldman haben in der Vergangenheit für vier Pianisten an vier Instrumenten geschrieben. Das Repertoire für vier Spieler an nur zwei Instrumenten ist noch kleiner, wenn man nur Originalwerke und hochwertige Bearbeitungen (s. Busoni) gelten läßt. Denissow stellt in seinem Beitrag sehr hohe Ansprüche an seine Interpreten; jeder Spieler hat schon in der eigenen Stimme mit rhythmischen Zeitüberlagerungen zu kämpfen. Dies Problem wird beim Zusammenspiel erheblich verstärkt. Hinzu kommt, daß auf jedem der beiden Instrumente gegenseitige Störungen der Spieler in der Mittellage vorhersehbar sind, auch bei schnellen Bewegungsabläufen. Äußerst schwierig ist die Koordination aller vier Interpreten; ob vielleicht ein Dirigent das Zusammenspiel erleichtern könnte, mag dahingestellt bleiben. Auf jeden Fall bildet Edison Denissows Komposition „Punkte und Linien“ ein Werk, das nur von wirklich guten Pianisten mit großer Erfahrung im Zusammenspiel und in Neuer Musik gemeistert werden kann.

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