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Dramaturgisch disponiert, souverän über den Schreib-Raum verfügend: Igor Strawinskys „Le Sacre du printemps“ im Facsimile der Partiturreinschrift. Foto: Paul Sacher Stiftung / Boosey & Hawkes
Dramaturgisch disponiert, souverän über den Schreib-Raum verfügend: Igor Strawinskys „Le Sacre du printemps“ im Facsimile der Partiturreinschrift. Foto: Paul Sacher Stiftung / Boosey & Hawkes
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Im Frühlingsopfer lesen wie in einem Buch

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Igor Strawinskys „Le Sacre du printemps“ in einer exemplarischen Facsimile-Edition
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Im Oktober 1968, schon von Krankheit gezeichnet, hielt der 86-jährige Igor Strawinsky in Zürich noch einmal die autographe Partitur seines „Sacre du printemps“ in Händen. Als Geschenk des Verlages Boosey & Hawkes zu seinem 80. Geburtstag hatte es einige Jahre in einem Schweizer Banksafe gelegen, nachdem der Versuch, es durch seinen Sohn Théodore verkaufen zu lassen, gescheitert war.

Welche Preisvorstellungen der geschäftstüchtige Selbstmanager damals wohl hatte? Den Komponisten scheint angesichts der Notenhandschrift jedenfalls eine gewisse nostalgische Ehrfurcht ergriffen zu haben. So notierte er mit leicht zittriger Hand auf der letzten Seite ein Nachwort auf Russisch, das in der Übersetzung Andreas Wehrmeyers wie folgt lautet: „Mag sich der Hörer dieser Musik für immer vor jener Spießerei hüten, deren Zeuge ich im Frühjahr 1913 bei der Pariser Premiere der großen Aufführung des Sacre du printemps im Théâtre der ‚Champs-Elysées‘ wurde.“ Damit setzte er nicht nur einen späten Schlusspunkt hinter das Autograph seines berühmtesten Stücks, sondern nahm auch für ein letztes Mal noch einmal den Diskurs darüber in die eigene Hand. Am liebsten wäre ihm wohl gewesen, er hätte diesen niemals aus der Hand gegeben, wäre immer Herr darüber gewesen, wie der Sacre aufzuführen und aufzufassen sei.

Auch in dieser Hinsicht dürfte der berüchtigte Skandal bei der Pariser Uraufführung für Strawinsky ein Schlüsselerlebnis gewesen sein. Schließlich führten ihm die Ereignisse des 29. Mai 1913 höchst anschaulich vor Augen, was einem Werk widerfahren kann, sobald man es in die Öffentlichkeit entlässt, der Rezeption überantwortet. Vielleicht nahm hier das seinen Ausgang, was einer der prägnantesten Wesenszüge Strawinskys nicht nur in Bezug auf den „Sacre“ werden sollte: Die Obsession, frühere Aussagen und Urteile zu revidieren. Sie brachte ihm unter Wissenschaftlern den Ruf eines chronisch unzuverlässigen Chronisten in eigener Sache ein.

Was das „Frühlingsopfer“ betrifft, so war Strawinsky jedenfalls Zeit seines Lebens bemüht, seine Partitur aus dem Dunstkreis der Ballettmusik herauszuholen, sie gleichsam den Niederungen der „Programmmusik“ in die Sphären der „absoluten Musik“ zu entheben. Prägnantes Beispiel ist die Leugnung, sein früher Kommentar darüber, was er mit dem Werk habe „ausdrücken“ wollen (flankierend zur Uraufführung erschienen in der Zeitschrift „Montjoie!“), sei authentisch. In dem gewichtigen Begleitbuch der nun zum hundertsten Geburtstag erschienenen Facsimile-Edition bei Boosey & Hawkes nimmt Stephen Walsh mit dem schönen Titel „Ce que je n’ai pas voulu exprimer dans ‚Le Sacre du printemps‘“ darauf Bezug („Was ich mit dem ‚Sacre du printemps‘ nicht ausdrücken wollte“). Geht es hier unter anderem darum, wie der Komponist sein Urteil über die Choreographien Vaslav Nijinskis und Léonide Massines immer wieder änderte, so beschäftigen sich weitere Autorinnen und Autoren in dem komplett in englischer Sprache verfassten Band mit anderen Aspekten dieses „Revisionismus“, bis hin zur kompositorischen Variante in den amerikanischen Symphonien („in C“ und „in drei Sätzen“).

David Schiff („Everyone’s ‚Rite‘“) deutet sie als den Versuch, Errungenschaften des frühen Balletts noch einmal für seine Konzertmusik fruchtbar zu machen. Auch die Umarbeitungen in den 1940er-Jahren, von denen einige rhythmische Umnotierungen eher kosmetischer Natur waren, führt Schiff darauf zurück, dass Strawinsky – nicht zuletzt durch Walt Disneys Visualisierung in „Fantasia“ – sich den „Sacre“ wieder zu eigen machen wollte. Die Konfusion, die diese Revisionen im Notentext zur Folge hatten, schließt Arne Stollberg mit Strawinskys eigenen Aufnahmen des Werkes und seinen Urteilen über die Interpretationen anderer Dirigenten kurz.

Angesichts einiger Beiträgen, die mit interessanten, allgemeinen Fragestellungen beginnen, sich dann aber in eher marginalen Spezialbereichen verlieren, kommt bei der Lektüre die Frage auf, warum man nicht ein systematisch aufgebautes Kompendium als Begleitbuch konzipiert hat. Um so willkommener sind da die Beiträge von Tobias Bleek zur Orchestrierung, von Andreas Meyer zu Rhythmus, Melodie und Harmonie und von Jonathan Bernard zu wichtigen Stationen in der Analysegeschichte. Letztere macht den von Meyer referierten Ansatz Tamara Levitz nachvollziehbar, die sich gegen eine „Zähmung“ der Körperlichkeit von Strawinskys Musik durch „Pitch-Class“-Sezierungen und ähnliche Prozeduren ausspricht und für eine „gestische“ Analyse unter Berücksichtigung tänzerischer Aspekte plädiert. Hier scheint sich der schon von Strawinsky ausgefochtene Kampf, welcher Sphäre der „Sacre“ denn nun angehört, im musik- und tanzwissenschaftlichen Diskurs fortzusetzen.

Andreas Meyer ist es auch, der eine seinerzeit bahnbrechende Entdeckung durch den Strawinsky-Experten Richard Taruskin (auch er hat einen Aufsatz beigesteuert) ein Stück weit relativiert. Dieser hatte in einem Aufsatz von 1980 nachgewiesen, dass die berühmte Fagott-Introduktion nicht – wie von Strawinsky behauptet – die einzige Melodie der Partitur ist, die er volksmusikalischen Vorbildern entlehnte und wies die Fundstellen in einer entsprechenden Liedsammlung nach. Meyer macht nun darauf aufmerksam, dass Strawinsky diese Funde keineswegs gezielt für bestimmte melodische Charaktere auswählte, sondern eher zufällig einfach ein Lied zum Ausgangspunkt für doch recht eigene, den Vorbildern nur dem Gerüst nach entsprechende Gestalten nahm. Bezeichnenderweise stehen diese Vorbilder häufig unten auf einer rechten Seite der benutzten Sammlung…

Mitunter kann es also durchaus anregend sein, sich bis in die Details der Fachaufsätze zu vertiefen, zumal ausführliche Bibliografie, Chronologie und Register den praktischen Nutzwert erhöhen. Aus Ballettsicht lohnt übrigens speziell ein Blick auf Lynn Garafolas Aufriss der Geschichte von Diaghilevs „Ballets Russes“, auf Claudia Jeschkes Reflexion über Nijinskis choreographische Texturen und auf Stephanie Jordans Überblick über „Meilensteine“ der tänzerischen Sacre-Umsetzungen. Wer sich speziell für Nicholas Roerichs Anteil an der Urproduktion und seine eigenen künstlerischen Wurzeln interessiert, erfährt in den Beiträgen von Paul Griffiths und Edmund Griffiths (sie prägen das hübsche Wortspiel von Roerich als „shaman“ und „showman“) sowie von John E. Bowlt Substanzielles. Nicht nur was diesen Beitrag betrifft, macht sich die üppige Ausstattung des Bandes bezahlt. Viele der eingeschobenen Schwarz-Weiß-Abbildungen sind am Ende in größerem Format und in Farbe nochmals abgedruckt.

Überwältigend ist schließlich der Eindruck des Facsimiles selbst. In Originalgröße (45 x 34 cm) und bestechender Druckqualität wiedergegeben, zieht Strawinskys minutiöse, über den Schreib-Raum souverän verfügende Handschrift den innerlich mithörenden Leser geradezu in die Partitur hinein. Die Blätterstellen vor manchen denkwürdigen Passagen scheinen beinahe dramaturgisch disponiert, die rhythmische Dichte und Tiefenschärfe ist mit Händen zu greifen.

Herausgeber Ulrich Mosch zeichnet im Vorwort die Bedeutung der Handschrift im Zusammenhang mit der Entstehungsgeschichte nach. Gebrauchsspuren und Eintragungen verschiedener Hand belegen die Verwendung als Dirigierpartitur bei der zweiten Ballettproduktion im Dezember 1920. Klar wird aber auch, dass sie nur zum Teil Rückschlüsse auf die bei der Erstaufführung 1913 erklungene „Urfassung“ zulässt. Das „missing link“ ist jene Abschrift, die als Stichvorlage für die Erstausgabe diente und die derzeit verschollen ist.

Nicht minder faszinierend ist die Handschrift der vierhändigen Klavierfassung, die in den Jahren von der Uraufführung bis zur Veröffentlichung der gedruckten Partitur 1921 als einzig verfügbares Notenmaterial die Verbreitung und Beurteilung des Epochenwerks maßgeblich beeinflusst hat. Auch darüber hätte man – über das instruktive Vorwort des Herausgebers Felix Meyers hinaus – ihm Begleitbuch gerne mehr gelesen, aber das ist nur ein marginaler Einwand angesichts einer in jeder Hinsicht exemplarischen Edition.

„The Rite of Spring: Centenary Edition“ (Boosey & Hawkes)

  • Ulrich Mosch (Hg.): Faksimile der Partiturreinschrift. Einleitung in Deutsch und Englisch; ISBN 978-0-85162-813-4; € 175,-
  • Felix Meyer (Hg.): Faksimile der Klavierfassung zu vier Händen. Einleitung in Deutsch und Englisch; ISBN 978-0-85162-822-6; € 99,-
  • Hermann Danuser und Heidy Zimmermann (Hg.): Avatar of Modernity. The Rite of Spring Reconsidered. 18 Essays in englischer Sprache; ISBN 978-0-85162-823-3; € 79,-
  • Paketpreis (alle drei Bände): € 350.-

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