Nichts Geringeres als „das Ende der Musikindustrie“ prophezeit Janko Röttgers im Untertitel seines neuen Buches, das verschiedene Stationen und Aspekte der Musikdistribution im Zeitalter von Internet und MP3 beleuchtet. Dass dieses Ende tatsächlich erreicht sei oder zumindest unmittelbar bevorstehe, mag der Leser auch nach der Lektüre nicht so recht glauben. Aber das ist wohl auch nicht Röttgers Ziel. „Einem Buch, das den Untergang der Musikindustrie bereits im Titel prophezeit“, so schreibt er selbst im letzten Kapitel, „lässt sich leicht Einseitigkeit vorwerfen. Und das zu Recht: Wer über die Digitalisierung der Entertainment-Wirtschaft schreiben will, kommt gar nicht daran vorbei, Prognosen aufzustellen, Partei zu ergreifen und sich bisweilen von seiner eigenen Meinung leiten zu lassen.“ Das allerdings tut Röttgers nicht im luftleeren Raum; vielmehr stützt er sich auf gut recherchierte Belege, die unter Zuhilfenahme der Fußnoten größtenteils im Netz nachvollziehbar sind. Und vor allem – das ist ein großer Pluspunkt – erbringt er den Nachweis, dass man auch über einen komplizierten, sehr technologischen Themenbereich in einer Weise schreiben kann, dass der „normale Mensch“ in der Lage ist zu folgen, am Ende gar vieles verstanden hat, was er vorher nie so recht begriffen hatte. Ein Buch für alle, die von Napster, Gnutella und MP3 immer wieder gehört und gelesen haben und sich nun über Hintergründe und Einzelheiten informieren möchten.
Sehr übersichtlich wird zunächst die Geschichte der Musik-Tauschbörsen im Netz dargestellt: die Geschichte von Shawn Fanning, der sich der Software MP3 zur Komprimierung von Musikdaten bediente, um mit „Napster“ eine Internet-Tauschbörse für Musik zu entwickeln und damit die Möglichkeiten des Musik-Vertriebs zu revolutionieren. Röttgers beschreibt, wie im Handumdrehen Millionen von Napster-Fans die Tauschbörse entdeckten und für ihren Musik-Konsum nutzten. Ein neues Kundenbedürfnis war geboren. Der Erfolg von Napster bedeutete zudem den Startschuss für viele Programmierer und Unternehmer, Ähnliches zu entwickeln. Genannt seien hier nur Gnutella, Kazaa (das bis heute sehr erfolgreich und inzwischen um ein vielfaches größer ist, als es Napster je war) oder das von Bertelsmann parallel zu seinen Napster-Verhandlungen entwickelte Programm „Snoopstar“, das jedoch nie auf den Markt kam. Die Idee des Hauses Bertelsmann, Napster zu übernehmen und zu einer bezahlten Tauschbörse umzuwandeln, war zum Scheitern verurteilt und damit auch die Tauschbörse selbst, die im Jahr 2002 Konkurs anmelden musste – nicht zuletzt, weil sie sich mit einer Flut von Klagen konfrontiert sah, die in Millionenhöhe gingen. Die Reaktion vor allem der amerikanischen Plattenindustrie, vertreten durch die Recording Industry Association of America (RIAA), bestand in der Tat in einer Kriegserklärung. Die juristische Mobilmachung aber richtete sich eben nicht nur gegen eine anonyme Tauschbörse oder gegen einzelne Programmierer, sondern gegen ein Millionen-Heer von eigenen Kunden. Schon hier beginnt man zu begreifen, dass die Musikindustrie an ihrer eigenen Misere kräftig mitgewirkt hat. Dies setzt sich fort in den – bisher durchweg gescheiterten – Versuchen, Bezahl-Tauschbörsen einzurichten sowie in der Überzeugung, durch diverse Kopierschutzsysteme das illegale Kopieren und Downloaden von Musik unmöglich zu machen. „Der Krieg gegen die Konsumenten“ ist ein zentrales Kapitel des Buches. Zu Recht, möchte man bei der Lektüre meinen. Anstatt auf die offenbar veränderten Bedürfnisse der Kunden einzugehen und Lösungen zu ersinnen, die diesen gerecht werden, deklarierte man den Kunden plötzlich zum Feind. Grundlegende Regeln des modernen Marketing, das macht Röttgers anhand von vielen, teils skurril anmutenden Beispielen klar, sind hier missachtet worden.
Und er nimmt die Musikindustrie weiter aufs Korn, indem er die Verteilungsmechanismen aus CD-Erlösen anprangert. Der Musiker, so führt er aus, erhält in der Regel nichts: Vorschüsse oder prozentuale Verkaufsbeteiligungen werden mit Kosten der Plattenfirmen verrechnet, die – laut Vertrag – der Künstler zu tragen hat. Offen bleibt allerdings, warum sich Generationen von Musikern auf solche Vertragsbedingungen einlassen und womit sie letztendlich ihre Brötchen verdienen. Dass außer Robbie Williams alle Major-Vertragspartner Taxi fahren, ist eher unwahrscheinlich. Dennoch: auch hier hat die Platten-Industrie scheinbar nicht vorausschauend gedacht. Dem von Seiten der Firmen eingebrachten Argument, nur auf diese Weise könnten die cirka 95 Prozent an CD-Produktionen, die ihre Kosten niemals wieder einspielen, finanziert werden, begegnet Röttgers mit dem spöttischen Vorschlag, dann müsse man „ja lediglich die fürs Anwerben neuer Künstler zuständigen A & R-Headhunter feuern und durch fähigere Spürnasen ersetzen“.
Bei allen Fehlern, die man der Industrie vorhalten kann: Eine Lösung der derzeitigen Probleme und Fragestellungen bietet auch das Buch von Janko Röttgers nicht. Wie können Musiker zukünftig gerecht für ihre Werke entlohnt werden, wie wird illegale von legaler Musik-Nutzung unterschieden, wie lassen sich unberechtigte Nutzer aufspüren, ohne dass gleich eine ganze Netz-Community kriminalisiert wird? Wie lässt sich auch zukünftig mit der Produktion von Musik so viel Geld verdienen, dass sie für die am Entstehungsprozess Beteiligten interessant bleibt? Die Beispiele der Independent-Szene, die Röttgers aufführt, mögen Denkanstöße geben. Geld verdienen lässt sich damit nicht, es sei denn, man verlegt sich wie bei dem Unternehmen „CDBaby.com“ doch wieder auf den Vertrieb der kleinen Scheibe und eben nicht auf die Distribution im Netz. „Pauschalen nützen allen“, lautet eine Kapitelüberschrift. Hier wird eine generelle Abgabe auf „alle Produkte oder Services“ gefordert, die „durch Tauschbörsen substanziell an Wert gewinnen würden“, zum Beispiel Computer, Heimelektronik und Speichermedien oder Tauschbörsen-Software. Im Gegenzug soll jede Musik-Nutzung im Netz legalisiert werden. Fraglich bleibt, ob dies eine „gerechte“ Lösung im Sinne derjenigen ist, die doch lieber ihre CD im Laden kaufen oder die – das soll es geben! – ihren PC in der Regel nur als Schreibprogramm, für die Tabellenkalkulation oder zum Übermitteln von E-Mail-Nachrichten benutzen. Fraglich auch, ob Pauschalabgaben tatsächlich die für eine angemessene Musikervergütung notwendigen Summen abdecken.
Schade, dass das Buch von Röttgers die Klassik-Industrie mit ihren doch teils anderen Gesetzmäßigkeiten nicht berücksichtigt. Schade auch, dass vor allem die amerikanische Industrie im Vordergrund steht, die freilich mit der deutschen vieles gemein hat, zumal die handelnden „Personen“ wie die Major Labels in der Regel „Global Player“ sind. Auf jeden Fall ist es ein informatives, gut strukturiertes und lesenswertes Buch. Röttgers trägt den sich in diesem Bereich fast täglich ändernden Gegebenheiten Rechnung, indem er eine Internet-Seite eingerichtet hat, die sich über das Erscheinungsdatum hinaus mit den relevanten Themen beschäftigt und aktuelle Nachrichten und Diskussionen publiziert: www.mixburnrip.de. Ein Blick darauf lohnt sich fast täglich.
Das Ende der Musikindustrie? Wohl kaum. Voraussichtlich wird es auch zukünftig einen Wirtschaftszweig geben, der aus einem fast unbegrenzten weltweiten Kundeninteresse ein profitables Geschäft macht. Wie der aussehen wird, vermag heute niemand vorauszusagen. Am Ende seines Buches lässt Röttgers so unterschiedliche Menschen wie Ted Cohen von der EMI, Smudo von den „Fantastischen Vier“, Gerd Gebhardt, Vorsitzender des Bundesverbandes der Phonographischen Wirtschaft, oder Don Joyce, Mitglied des Audio-Art-Kollektivs Negativland, zu Wort kommen und ihre teilweise seinen eigenen Thesen entgegen gesetzten Meinungen äußern. Zur Frage der Zukunft der Musikindustrie sei zum Schluss Tim O’Reilly zitiert, Gründer eines US-Verlagshauses für Computer-Fachbücher: „Es wird eine Gruppe großer Firmen geben, deren Geschäft das Aufspüren, Promoten, Vertreiben und Verkaufen talentierter Musiker ist... Es wird außerdem eine Menge kleinerer Firmen geben und viele selbstverlegte Künstler, die ihre eigenen Werke promoten... Die Frage ist, ob die Firmen die existierenden Plattenlabels sein werden, die sich für das neue Medium neu erfunden haben oder ob es neue Firmen geben wird, die den Paradigmenwechsel ausnutzen, um ein neues Geschäftsfeld zu erschließen.“ Liest man Röttgers Buch, so kommen Zweifel auf, ob die derzeitigen Firmen die notwendige Flexibilität entwickeln, um die rasanten Veränderungen der Branche nicht weiter zu verschlafen.
Janko Röttgers: Mix, Burn & R.I.P. –Das Ende der Musikindustrie
Verlag Heinz Heise, 183 Seiten, Broschur, € 16 Euro (D)/e 16,50 (A)/28 sFr, ISBN 3-936931-08-9.