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Herausforderung Nürnberg: Moritz Puschke gestaltet künftig den Festivalklassiker ION. Foto: Joanna Scheffel/ION
Herausforderung Nürnberg: Moritz Puschke gestaltet künftig den Festivalklassiker ION. Foto: Joanna Scheffel/ION
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Der DNA der geistlichen Musik nachspüren

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Der neue künstlerische Leiter der Internationalen Orgelwoche Nürnberg, Moritz Puschke, im Gespräch mit Barbara Haack
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Seit 1951 wird die Internationale Orgelwoche Nürnberg – Musica Sacra, kurz ION, in Nürnberg veranstaltet. Das Musikfest ION gehört damit zu den größten und ältesten Festivals für geistliche Musik in Europa. 2019 übernimmt Moritz Puschke die künstlerische Leitung des Klassikers. Anlass für nmz-Herausgeberin Barbara Haack, ihn zu fragen, was sich verändert hat oder sich verändern wird.

neue musikzeitung: Sie haben seit einem Dreivierteljahr zwei Hüte auf: Sie sind weiterhin künstlerischer Leiter beim DCV in Berlin und verantworten große Projekte wie die chor.com und CHOR@BERLIN. Neuerdings sind Sie außerdem künstlerischer Leiter des Musikfestes ION in Nürnberg. Wie verträgt sich das? Gibt es zeitliche oder auch inhaltliche Konkurrenzen, gibt es Synergien?

Moritz Puschke: Ich habe unter anderem deswegen nach zehn Jahren meine Geschäftsführung beim Deutschen Chorverband abgegeben, weil ich schon in den letzten Jahren gemerkt habe, dass ich mich deutlich stärker auf das Entwickeln und Leiten von Festivals und auf das Machen von Programmen konzentrieren möchte. Es ist auch einfach eine wunderbare Erfahrung, unmittelbar zu erleben, wie Menschen auf Musik reagieren. Der direkte Austausch nach einem Konzert – das ist unvergleichlich und hat mir vielleicht ein bisschen gefehlt. Nürnberg ist für mich eine neue Herausforderung, eine völlig neue Stadt. Ich versuche, so oft wie möglich hier zu sein. In der ersten Bilanz verträgt sich das zeitlich ganz gut.

nmz: Das erste Festival unter Ihrer künstlerischen Leitung steht unter dem Motto „Spuren“. Wohin führen diese Spuren, woher kommen sie?

Puschke: Das Festival wurde kurz nach dem Krieg gegründet, als internationales und auch völkerverständigendes Zeichen, im Rahmen des Neuaufbaus der Stadt nach dem Krieg, sowohl architektonisch, als auch gesellschaftlich. Man muss sich das vor Augen führen: Die ersten Konzerte 1951 fanden in der Ruine von St. Sebald statt! Die Zerstörung war allgegenwärtig und dann erklang dort wieder geistliche Musik! Wenn ich so etwas nachspüre, dann bekomme ich eine Gänsehaut, weil einmal mehr die Kraft von geistlicher Musik sichtbar wird. Heute bezeichnet sich die Stadt Nürnberg als Stadt der Menschenrechte, aber auch der Migration. Das hat mich interessiert. Welche Spuren sind hier im Bereich der geistlichen Musik, der Musica Sacra, hinterlassen worden? Welche sind vielleicht verschüttgegangen oder wurden im Zuge der letzten Jahre oder Jahrzehnte nicht konsequent verfolgt?

Eine Spur, die ich hier legen will, ist, dass wir ganz selbstbewusst und mit dem Stolz einer jahrhundertealten Tradition über  ein Musikfest für geistliche Musik in Kirchenräumen sprechen. Weg mit den Selbstzweifeln und Rechtfertigungen! Was wir haben, ist so wertvoll und von größter Relevanz! Nürnberg hat großartige Kirchen: in der Innenstadt eine tolle Konzertkirche neben der anderen. Diese zu inszenieren und zu bespielen ist mir ganz wichtig, aber auch, Nürnbergerinnen und Nürnberger an dieses Festival heranzuführen. Deswegen lege ich Spuren in der Zusammenarbeit mit Nürnberger Drittklässlerinnen und Drittklässlern. Wir haben das „SingBach“-Projekt mit Friedhilde Trüün als Projektwoche zur Eröffnung der ION: 260 Drittklässler, die sich mit Bach performativ auseinandersetzen.
Ich wollte auf jeden Fall Spuren legen in der Zusammenarbeit mit der Nürnberger Musikhochschule, die vielfach in unser Programm integriert ist. Auch die beiden hauptamtlichen Nürnberger Kirchenmusiker an St. Lorenz und St. Sebald ins Programm zu integrieren ist mir wichtig. Gleichzeitig will ich aber auch, dass dieses Festival überregional strahlt und deswegen muss und will ich darüber nachdenken, wie es der Kirchenmusik heute geht.

nmz: Wird sich das gesamte Festival ausschließlich in Kirchen abspielen?

Puschke: Das Abschlusskonzert, das „War Requiem“ in einer Kooperation mit der Staatsphilharmonie und Joana Mallwitz, findet in der Meistersingerhalle statt. Daneben gibt es die „Glorious Revolution“ mit Anna Prohaska und La Folia Barockorchester im Rathaus und die Capella de la Torre in der Kartäuserkirche im Germanischen Nationalmuseum. Im Rahmen der großen ION-Nacht sind wir auch auf dem Hauptmarkt. Alle anderen Konzerte finden in den Nürnberger Innenstadtkirchen statt.

Das ist auch eine Herausforderung, denn der heutige Konzertbesucher kommt mit bestimmten Erfahrungen aus akustisch optimierten Konzertsälen und perfekten CD-Einspielungen. So frage ich mich: Was geht in diesen Kirchenräumen eigentlich? Wie sind die akustischen Phänomene? Wie sind die Lichtverhältnisse? Welche Musik warum in welcher Kirche? Also was ist das Einzigartige, was man nur in Kirchräumen erfahren kann?

nmz: ION steht für „Internationale Orgelwoche Nürnberg“, jetzt erweitert zu „Musikfest ION“. Es versteht sich auch als Festival für geistliche Musik oder Musica Sacra. Was hat sich verändert oder wird sich verändern?

Puschke: Von außen gesehen wirkte die ION früher auf mich wie ein Treffen von Orgel-Freaks mit Wettbewerb. Ich habe aber festgestellt, dass es immer eine Gleichberechtigung zwischen Orgelmusik, Chormusik, großer oratorischer Musik, Sinfonien oder Uraufführungen kammermusikalischer Art gab. In den Statuten stand immer schon, es sei ein Festival für geistliche Musik. Das gehörte für mich auch zum Spurenlegen: dieses klare Profil jetzt auch im Titel des Festivals festzumachen.

nmz: Wobei der Begriff „geistliche Musik“ oder „Musica Sacra“ nicht ganz klar ist …

Puschke: Nein, das ist er für mich auch nicht und das ist auch der Reiz. Der Begriff hat sich total verändert und ist in der Musikwissenschaft umstritten. Was ist Musica Sacra? Das kann für jeden, in dem Moment, wo er im Konzert in der Kirche ist, eine spirituelle Erfahrung sein. Trotzdem gibt es komponierte Musik für den Kirchenraum. Das ist natürlich ein Kern unserer Programmatik. Aber was ist für jemanden höchst individuell eine spirituelle Erfahrung? Und ist „geistliche Musik“ nur christliche Musik? Das sind für mich die Fragen, die ich in den nächsten Jahren stellen und dabei auch ins Experiment gehen will. Für das nächste Jahr plane ich eine Kooperation mit dem Verein für christlich-jüdische Zusammenarbeit. Die Frage ist auch, was in anderen Religionen die Musica Sacra ist. Wenn wir sagen, wir wollen ein international relevantes Festival für geistliche Musik sein, dann will ich diesen Begriff nicht zu eng fassen.

nmz: Wie weit hat aus Ihrer Sicht Musica Sacra oder geistliche Musik mit Kirche, mit Glauben zu tun?

Puschke: Das ist eine total spannende Frage. Ich weiß von vielen Kolleginnen und Kollegen, Mitsängerinnen und Mitsängern in Chören, auch in Kirchenchören, die gesagt haben: „Ich liebe diese Musik und sie setzt bei mir etwas in Kraft, berührt mich und bringt mich zum Nachdenken über die Frage, ob es ein göttliches Wesen oder spirituelle Kräfte gibt. Aber deswegen glaube ich trotzdem nicht an diesen einen Gott, und ich glaube auch nicht an die christliche Kirche.“ Bei dieser Frage darf es kein Tabu geben. Es gibt höchst individuelle Zugänge zum Thema Glauben.

nmz: Sehen das Ihre Partner, Geldgeber und Gremien genauso?

Puschke: Bisher habe ich den Eindruck, dass es hier eine sehr liberale Grundhaltung gibt, dass genau diese Grenzerfahrung und diese vielleicht unscharfen Konturen die Leute in den Gremien interessieren. Das gilt es für mich jetzt auszuprobieren.

nmz: In früheren Zeiten hat die Kirche auf das Thema Kirchenmusik stark Einfluss genommen. Erleben Sie das heute noch so? Interessieren sich die Kirchenoberen überhaupt für das Thema, oder machen sie Vorgaben?

Puschke: Im Bereich des Musikfests ION und meines künstlerischen Auftrags überhaupt nicht. Ich habe hier programmatische Freiheit. Aber wenn wir uns im Allgemeinen damit beschäftigen, wie es den Kirchenmusikern vor Ort und im Spannungsfeld mit den Theologen, bei der Gestaltung von Gottesdiensten, Amtshandlungen und Konzertveranstaltungen geht, dann gibt es Grund genug, dies auch hier zu diskutieren. In der Frage „Was ist Kirchenmusik eigentlich? Wer hat die Hoheit im Kirchenraum? Wer setzt sich durch?“ gibt es immer wieder Konflikte und Zerwürfnisse. Da tut es den Kirchenmusikern gut, wenn sie wissen, dass es in Nürnberg dieses Festival gibt, wo solche Fragen überhaupt mal offen ausgesprochen werden. Die Kirchenmusiker tun so viel für die flächendeckende Versorgung mit Musik in den viel zitierten ländlichen Räumen, über die ja die Politik dauernd diskutiert. Dort sind die Kirchenmusiker oft die einzigen, die überhaupt noch ein musikalisches Angebot machen.

nmz: Geht es also auch um Spuren in das, was in der normalen Kirche keinen Raum hat?

Puschke: Natürlich. Oder auch veränderte Aufführungsformen: Wir haben eine Johannespassion mit drei Musikern. Das kann man natürlich als Sakrileg betrachten. Aber ich bin mir sicher, dass das einen völlig anderen, viel intimeren Zugang zu diesem Werk schafft. Das soll dann auch ein Impuls sein für einen Kirchenmusiker, der hierher kommt.

nmz: Der Titel des Symposiums in diesem Jahr lautet: „Alles Pop?! Oder: Was bleibt von der Musica Sacra?“. Spielt die Pop-Musik auch im Programm des ION eine Rolle?

Puschke: Nein.

nmz: Ist das eine bewusste Entscheidung, weil das über das hinausgeht, was Kirchenmusik ist?

Puschke: Sie sprechen ja hier mit einem Menschen, der die geistliche Musik liebt und sie verinnerlicht hat. Aber Sie sprechen auch mit jemandem, der ein großer Liebhaber von Pop-Musik ist und der einen sehr hohen Anspruch hat an das, was er unter Pop-Musik versteht. Eine gut aufgeführte Marienvesper von Monteverdi oder die Blitze und Donner in der Matthäuspassion sind für mich Groove, das ist Pop, total experimentell und tänzerisch. Wenn wir hier irgendwann Pop-Musik machen, dann müsste das eine klare Qualitätsbotschaft haben. Auch deswegen will ich mit dem Symposium erst einmal Grundlagen schaffen für das Verhältnis von Kirchenmusik und Pop – da bin ich selbst total neugierig.

nmz: Wie beurteilen Sie die Ausbildungssituation im Bereich der Kirchenmusik?

Puschke: Wir haben auf jeden Fall in Deutschland – und dafür werden wir ja auch international hoch akzeptiert – eine unfassbar gute und fundierte Kirchenmusik-Ausbildung. Aber sie wird nicht besser. Die Bremer Hochschule zum Beispiel wickelt den Studiengang gerade ab. Gerade in einer Region wie Bremen und dem ländlichen Raum darum herum war die Kirchenmusik in den letzten Jahren und Jahrzehnten wichtig, um eine gesamte Musikszene zusammenzuhalten und zu verankern.

nmz: Sie starten das Festival mit einem aus Ihrer Arbeit im Chorverband langjährigen Mitstreiter: Hans-Christoph Rademann …

Puschke: Das ist für mich persönlich wichtig. Der Dresdner Kammerchor mit Hans-Christoph Rademann hat mit dem Carus Verlag in den letzten 10 Jahren das gesamte Werk von Heinrich Schütz eingespielt. Ich habe bewusst Heinrich Schütz an den Anfang gesetzt, weil gerade die Psalmen Davids mit ihrer Klangpracht, ihrer italienischen Anwandlung und mit ihren Mehrchörigkeiten ein Stück weit DNA der geistlichen Musik sind. Auf diese Psalmen Davids hat sich ganz viel aufgebaut. Deswegen ist es mir wichtig, dass sie am Anfang meiner ersten Spielzeit stehen. 

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