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Simon Rattle, ein älterer Mann mit nahezu weißen Locken, posiert in dunkler Kleidung vor einem dunklen Vorhang sitzend mit einem ausgestreckten Zeigefinger an den Lippen.

Rattle steckt sein Preisgeld in das Projekt „BRSO hip“. Diese lockere Abkürzung steht für „historically informed performance“: Rattle möchte das Repertoire  des BRSO um mehr Barockmusik erweitern. Foto: EvS Musikstiftung/Rui Camilo

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Die Begeisterung für die Sache ist das Wichtigste

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Sir Simon Rattle, Siemens-Musikpreisträger 2025, im nmz-Gespräch
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Am 19. Januar feierte der Dirigent seinen 70. Geburtstag. Kurz davor wurde bekannt, dass Sir Simon Rattle mit dem Ernst von Siemens Musikpreis für sein Lebenswerk ausgezeichnet wird. Die Preisverleihung findet im Mai im Herkulessaal statt. Dort musste Mitte Januar das Publikum vor der Wiederholung eines Konzerts des BR-Symphonieorchesters unter Leitung des 97-jährigen Dirigenten Herbert Blomstedt nach Hause geschickt werden: wegen eines nach einem Kurzschluss hart­näckig blinkenden Alarmlichts.

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neue musikzeitung: Sir Simon, Sie werden im Mai im Herkulessaal mit dem Ernst von Siemens Musikpreis geehrt. Haben Sie von der Panne am Samstag gehört?

Simon Rattle: Ja. Wenn es nicht so tragisch wäre, hätte ich darüber gelacht. Früher gab es einen Elektriker, der das Problem hätte beseitigen können, aber nun ist er im Ruhestand und wurde nicht ersetzt. Es gab schon öfter Probleme mit der Technik, insofern kam der Vorfall nicht überraschend. Aber wir haben mehrfach davor gewarnt. Trotzdem hoffe ich, dass die Verleihung ohne Blinklicht über die Bühne gehen kann.

nmz: Immerhin hat Kunstminister Markus Blume kürzlich erklärt, er sei optimistisch, dass der Konzertsaal im Werksviertel gebaut werde.

Rattle: Ich hoffe, dass die Politik nach dem ausgefallenen Konzert erkennt, dass es ein Problem mit den Sälen in München gibt. Der Herkulessaal ist in schlechtem Zustand, der städtische Gasteig ist geschlossen, die Isarphilharmonie nicht als dauerhafter Saal gebaut, sondern als Interim. Es ist daher wichtig, die Staatsregierung davon zu überzeugen, dass der Konzertsaal im Werksviertel vorangetrieben werden muss. Ich werde nun 70 Jahre alt und hoffe, dass der Neubau vor meinem Achtzigsten eröffnet werden kann.

nmz: Der Ernst von Siemens Musikpreis wird Ihnen für Ihr Lebenswerk verliehen. Welche Gefühle löst so etwas bei Ihnen aus?

Rattle: Wenn ich an frühere Preisträger wie Benjamin Britten, Herbert von Karajan oder Mariss Jansons denke, wird mir ein wenig schwindelig. Aber mit 70 ist man als Dirigent noch jung, wenn Sie an den 97-jährigen Herbert Blomstedt denken. Er kann zwar nicht mehr Fußball spielen, dirigiert aber besser denn je.

nmz: Mariss Jansons hat sein Preisgeld 2013 für den Konzertsaal gespendet. Was haben Sie mit Ihren 250.000 Euro vor?

Rattle: Ich investiere es in ein Projekt meines Orchesters: BRSO hip. Hip steht für „historically informed performance“. Das Orchester hat durch die musica viva viel Erfahrung mit Gegenwartsmusik. 

Ich möchte mit den Musikerinnen und Musikern das Repertoire durch ältere Musik erweitern. Es wurden Bögen nach historischen Vorbildern angeschafft. Entscheidend ist allerdings nicht das Instrumentarium, sondern das Wissen und die Begeisterung für die Sache. Und das wird sich auch auf die Aufführung neuerer Musik auswirken.

Und zwar nach dem Bonmot des Komponisten György Kurtág, der einmal gesagt hat: „Alle Leute reden von Bachs Einfluss auf Bruckner, aber niemand von Bruckners Einfluss auf Bach.“

Ein aufregender Weg

nmz: Das erste Konzert dieser neuen Formation findet am 9. Februar im Herkulessaal statt. Wie wurde es vorbereitet?

Rattle: Es gab Workshops, etwa mit Continuo-Spielern des Freiburger Barockorchesters. Wir hatten vor einigen Wochen ein Privat-Konzert mit Bach-Kantaten, bei dem wir bemerkt haben, wie sehr wir uns aus unseren musikalischen Komfortzonen herausentwickelt haben. Das ist ein aufregender Weg, und nun werden wir erste Ergebnisse der Arbeit an diesen Kantaten öffentlich vorstellen. Auch für mich ist das größtenteils neu: Ich habe erst im Lockdown durch John Eliot Gardiners Bach-Buch entdeckt, welche Goldmine Bachs Kantaten enthalten.

nmz: Ich habe in dieser Zeit eine Box mit den Symphonien von Haydn durchgehört.

Rattle: Haben Sie eine schlechte Haydn-Symphonie entdeckt? Alle sind interessant, und immer, wenn ich mich mit einer beschäftige, sage ich mir: Ich muss sie unbedingt demnächst aufführen. 

nmz: Die Beschäftigung mit Haydn ist eine Konstante Ihrer Arbeit, ebenso die mit Janáček. Nur zu Tschaikowsky finden Sie offenbar keinen Zugang. Warum?

Rattle: Auch mit Chopin habe ich in dieser Hinsicht meine Probleme – vielleicht weil meine Mutter beide Komponisten nicht mochte. Ich habe am Beginn meiner Karriere viel Tschaikowsky mit Jugendorchestern aufgeführt, aber ich war nie damit zufrieden. Dann hörte ich Jewgenij Mrawinskys Einspielungen, später Konzerte unter Mariss Jansons. Oder zuletzt Kirill Petrenko mit den Berliner Philharmonikern. Andere Dirigenten können das besser als ich, und es gibt keinen Mangel an guten Tschaikowsky-Dirigenten, für die seine Musik eine natürliche Sprache ist.

nmz: Der Symphonische Hoagascht mit Blaskapellen aus Bayern war im vergangenen Sommer ein großer Erfolg. Wird es ein Nachfolgeprojekt geben?

Rattle: Ich bin nicht sicher, ob ich darüber sprechen darf. Aber so viel: Die Zusammenarbeit mit den Blaskapellen geht weiter, außerdem denken wir über ein vergleichbares Projekt mit dem BR-Chor und bayerischen Laienchören nach, das in eine Aufführung von Orffs „Carmina Burana“ münden könnte. Denn die Verbindung mit dem gesamten Bayern über München hinaus ist mir sehr wichtig.

nmz: Wenn eine Fee käme, und Sie hätten einen Wunsch frei, was würden Sie ihr sagen?

Rattle: Ich würde wirklich das Wohlergehen und das Überleben der Orchester und der klassischen Musik in einer Welt sichern wollen, in der dies nicht immer als Priorität angesehen wird. Und für die Zukunft der Musik würde ich sicherstellen wollen, dass möglichst viele Menschen die Möglichkeit haben, nicht nur mit Musik in Kontakt zu kommen, sondern auch zu spielen und so ein praktischer Teil dieser großen, außergewöhnlichen Kunstform zu sein.

Vermitteln ist Pflicht

nmz: War das früher einfacher?

Rattle: Ich hatte das unglaubliche Glück, in einer Zeit aufzuwachsen, in der es für junge Musikerinnen und Musiker viele Möglichkeiten zum Lernen gab. Und mir ist bewusst, wie glücklich ich mich schätzen kann, dass ich eine Reihe inspirierender Mentoren hatte. Ich möchte einfach, dass alle anderen die gleichen Möglichkeiten haben, die ich hatte. Und es ist unser aller Pflicht, das Wissen weiterzugeben, das wir erworben haben.

nmz: Gibt es ein Projekt, das Sie bisher nicht verwirklichen konnten?

Rattle: Winrich Hopp von der musica viva hat mit mir über Karlheinz Stockhausens „Gruppen“ für drei Orchester gesprochen. Aber es ist schwierig, einen Raum zu finden, in dem man dieses Werk aufführen kann. Trotzdem bleibt es auf unserer Wunschliste.

nmz: Was machen Sie, wenn Sie sich nicht mit Musik beschäftigen?

Rattle: Ich koche gern, ich wandere, ich schaue mir Fußball mit dem FC Liverpool an. Als der Trainer Jürgen Klopp – der in England wohl beliebteste Deutsche – den Verein verließ, war das ein Tag der Trauer. Außerdem bin ich Vater schulpflichtiger Kinder. Das nimmt auch viel Zeit in Anspruch.

Simon Rattle dirigiert am 6. und 7. Februar im Herkulessaal Mozarts Symphonien Nr. 39, 40 und 41, am 9. Februar stellt sich dort um 11 Uhr die neue Formation BRSO hip vor (ausverkauft).

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