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Der seit über 30 Jahren in London lebende Pianist erhält den renommierten Ernst von Siemens Musikpreis 2004. Der mit 150 000 Euro dotierte Preis gilt als «Nobelpreis der Musik».
München (ddp-bay). Absolute Stille ist für Alfred Brendel wichtigste Voraussetzung der Musik. Wenn sich dieser Zustand bei einem öffentlichen Konzert nicht einstellen will, weil das Publikum zu unruhig ist, greift der Weltklassepianist schon mal zu außergewöhnlichen Mitteln. Unvergessen ist ein Konzert in der Münchner Philharmonie. Weil ein hartnäckiger Huster einen Einsatz zunichte machte, hielt Brendel inne, blickte den Störer strafend an - und begann, als endlich Stille herrschte, wieder von vorne. Eine solche Geste kann sich natürlich nur ein Künstler leisten, der wie Brendel zu den ganz großen Autoritäten in der Welt der Klassik zählt. Seine Ehrung mit dem renommierten Ernst von Siemens Musikpreis 2004, dem mit 150 000 Euro dotierten «Nobelpreis der Musik», kam am Freitag überraschend, ist aber folgerichtig.Denn wie wohl kein anderer zeitgenössischer Interpret verkörpert der 73-Jährige den Typus des kritisch-tiefsinnigen «Klavierphilosophen», der sich nicht nur auf magischen Tastenzauber versteht, sondern eine Komposition in ihrem tiefsten Inneren zu ergründen trachtet und es versteht, das Publikum auf seinen Reisen in die Urgründe der Musik mitzunehmen.
Der seit über 30 Jahren in London lebende Pianist mit der hohen Stirn, oft wirrem Haar und dicker Brille entstammt einer österreichisch-deutsch-italienisch-slawischen Familie. Seine Eltern führten eine Ferienpension auf der jugoslawischen Adriainsel Krk. Er erhielt schon als Sechsjähriger seinen ersten Klavierunterricht, studierte in Zagreb und Graz Klavier, Komposition und Dirigieren und bekam bei dem berühmten Pianisten Edwin Fischer den letzten künstlerischen Schliff. 1948 gab er in Graz sein erstes öffentliches Konzert, bei dem er auch ne Kompositionen präsentierte. Parallel dazu machte er die Öffentlichkeit mit seinen Aquarellen bekannt. Brendels Weltkarriere begann ein Jahr später mit einem Preis beim Internationalen Busoni-Klavierwettbewerb in Bozen.
Künstlerische Maßstäbe setzte Brendel vor allem mit seinen, vielfach auf CD eingespielten, Interpretationen von Werken der Klassik und Romantik, allen voran Ludwig van Beethoven, Franz Schubert und Wolfgang Amadeus Mozart. Seine Interpretation der Klaviersonaten Beethovens wurde 1977 mit dem deutschen Schallplattenpreis ausgezeichnet. Darüber hinaus verhalf er aber auch weniger bekannten Stücken zu neuer Resonanz im Konzertleben. Beispiele dafür sind das Spätwerk von Franz Liszt, Ferruccio Busonis Klavierwerke und das Klavierkonzert von Arnold Schönberg.
Die Kritiker reißt Brendel, der 1998 sein 50. feierte, immer wieder zu hymnischen Rezensionen hin. Sie lobten seine «glasklare Transparenz», seine pianistische Perfektion, aber auch die «intellektuelle und emotionale Intensität» seines Spiels. Auch Brendels schriftstellerischen Leistungen wurde immer wieder überschwängliches Lob zuteil. «Seine profunden Reflexionen über das Metier des Interpreten, über Musik und Musikleben weisen ihn als Musikschriftsteller von hohem Rang aus», heißt es etwa in der Würdigung der Ernst von Siemens Musikstiftung.
Brendel versteht sich aber auch auf den leichten, humoristischen Ton. Mit seinen in Buchform veröffentlichten kurzen, ironischen Texten beweist er, dass er nicht nur scharfsinniger Analytiker, sondern auch ein virtuoser Erzähler ist. Da ersinnt er zum Beispiel eine alte Dame, die eines Tages beginnt, ihr Huhn mit ins Bett zu nehmen. Dem Tier zuliebe lernt sie krähen, damit das Huhn sich zu Hause fühlt. Am Ende picken beide gemeinsam Körner auf dem Hühnerhof.
Eine andere Geschichte erzählt von einem Konzertbesucher, der von quälendem Juckreiz geplagt wird, sich ständig kratzen muss und deswegen vom Künstler mit Blicken fixiert und vor dem ganzen bloßgestellt wird. Die fiktive Erzählung erinnert an die wahre Begebenheit aus der Münchner Philharmonie, als Brendel von seinem Publikum mit durchaus unüblichen Mitteln Ruhe einforderte.
Georg Etscheit