Begegnungen mit Frederic Rzewski, so wenige es auch gab, immer hielten sie irgendeine Überraschung bereit. Da konnte ich mich noch so sehr auf dieses und jenes Thema vorbereitet haben – es kam, am Ende, ganz anders. Hatte er Zeit und Lust, konnten die angestrebten Formate leicht aus dem Ruder laufen, in jeder Beziehung.
Ja, mit Frederic Rzewski habe ich wohl eines der längsten Interviews meiner journalistischen Laufbahn geführt. Geschehen so beim Kunstfest Weimar am Rand der deutschen Erstaufführung seines 1986 entstandenen Bühnenstücks „Der Triumph des Todes“ auf das die Auschwitz-Prozesse verarbeitende Dokumentendrama „Die Ermittlung“ von Peter Weiss. Die Aufführung selbst war nicht weiter der Rede wert, ging unter in Plattitüden, leerer Symbolik, verdoppelte, bot von allem zuviel. Mein Interview mit dem Komponisten nicht. Aber was heißt hier schon Interview! Je länger es dauerte – zu meiner nicht gelinden Überraschung machte der alte Herr keinerlei Anstalten, die Dinge kadenzieren zu lassen –, lösten sich Form und Rollenverteilung allmählich auf. Plötzlich war er es, der die Fragen stellte, der wissen wollte, weshalb ich mich mit so einer düsteren Thematik befasste und auch noch freiwillig? Auf einmal sprachen wir über unserer beider Herkunft, sprachen über unsere Väter, was diese getan, was sie nicht getan hatten und was das mit uns zu tun hatte. Eine andere Art Ermittlung. Wir schieden – fast in Freundschaft. Überraschungen, Wendungen von gewisser kathartischer Natur, die ich auch bei meinen Kollegen beobachten konnte. 2015, beim Kölner Acht Brücken-Festival „Musik.Politik?“ beispielsweise. Für Frederic Rzewski, der aus dem Geist der linksrevolutionären Avantgarde der 1960er Jahre kam – „Musik muss die Realität widerspiegeln. Die Realität ändert sich. Darum muss die Musik sich ändern.“ –, für einen wie Frederic Rzewski war das verschämte Fragezeichen hinter dem Wort Politik natürlich von vornherein eine Provokation. Aber wie sehr sich der Wind gedreht hatte, das bemerkte er als er nach seinem bewegenden Klaviervortrag von „The People United Will Never Be Defeated“ im großen Sendesaal des Westdeutschen Rundfunk zum Interview gebeten wurde. Eine junge Volontärin war ausersehen, dem Meister Fragen stellen zu dürfen. Sie tat das etwas zu unbedarft, etwas zu unwissend, dazu mit unpassend viel Attitüde, woraufhin Rzewski (ohnehin verärgert, weil der Sender „vergessen“ hatte, sein Konzert mitzuschneiden) der angehenden Journalistin erst einmal beibrachte, wie man ein Mikrophon hält. Hart war das. Alles andere als höflich. Aber man spürte – da kam einer von ganz woandersher. Aus einer Zeit, die das Gestelzte, Gestellte, die das Getue verabscheute, die die ökonomischen, sozialen Spaltungen (in Arm und Reich, Oben und Unten, U und E, Kunstmusik und Jazzmusik, notierte und nichtnotierte Musik, in Experten und Nicht-Experten) einfach nicht mehr leiden mochte, nicht nur freundlich überbrücken, weglächeln, sondern abschaffen wollte und in diesem Lasst-uns-die-Trennwände-beseitigen selber mit Lust voranging, um so, en passant, der Kunst ein anderes Gesicht zu geben, im Vorübergehen gewissermaßen.
Nicht, ohne Spuren zu hinterlassen, woran sich Frederic Rzewski mit großer Selbstverständlichkeit beteiligt hat. Die schiere Zahl seiner Kompositionen und Texte, die Uraufführungen eigener und fremder Stücke, die er als Pianist gestaltet oder in denen er als Mitspieler involviert war, ist erdrückend und im Prinzip über die ganze Welt verstreut. Das Grenzüberschreitende hatte er einfach in sich. Als Jahrgang 1938 in Westfield/Massachusetts als Sohn eines Apothekers zur Welt und über ein Musikstudium an den Universitäten Harvard und Princeton zur Kunst gekommen, mit Kompositionsunterricht bei Walter Piston, Roger Sessions, Milton Babbit, gelangte Rzewski als Pianist und Komponist dank eines Fulbright-Stipendiums 1960 nach Europa, nahm weiterführende Kompositionsstudien bei Wolfgang Fortner, Luigi Dallapiccola und Elliot Carter in Berlin, lebte in den Folgejahren immer wieder in Rom, wo er die Gruppe „Musica Elettronica Viva“ mitgründete, um erstmals (später nannte man das Live-Elektronik) instrumentale und elektrische Klangerzeugung in die Aufführungspraxis einzuführen, ging dann zwischenzeitlich wieder in die Vereinigten Staaten, um als Mitglied der frühen Ensembles von Steve Reich die Minimalmusik in statu nascendi mitzuerleben, ging erneut nach Europa, wo er im belgischen Liège seit 1977 am Königlichen Konservatorium selber Komposition unterrichtete – eine Art Nomandenleben zwischen den Kontinenten. Und immer, wo er war, mischte er sich ein, hinterließ seine Fingerabdrücke.
Zugleich hat sich Frederic Rzewski in seinem erklärten Non-Konventionalismus um einen eigenen Verlag, der den Mann und das Werk promotet, nie groß gekümmert, weswegen wir vor der Kuriosität stehen, dass seine Noten, seine Partituren nicht unwesentlich über Nonprofit-Organisationen Petrucci Music Library, The Living Composers Project gelistet werden, einsehbar sind und auch in Fachzeitschriften veröffentlicht wurden. Nicht zu vergessen natürlich die unzähligen, nicht-dokumentierbaren Improvisationen, die er seit der Mitte der 1960er-Jahre in musikalischen Arbeitsgemeinschaften mit Alvin Curran, mit Richard Teitelbaum, mit Steve Lacy und anderen geliefert hat. Musik, die dem Augenblick huldigte.
Berühmt geworden aber ist Frederic Rzewski durch ein Stück komponierter Musik. 1975 schrieb er das Schlüsselwerk der politischen Musik dieser Jahre: 36 Variationen für Klavier solo plus Improvisation über das von Sergio Ortega und seiner Gruppe Quilapayun komponierte Lied der chilenischen Unidad Popular „El pueblo unido, jamás será vencido“, ein mitreißendes, hochvirtuoses, Serialismus und (die seinerzeit tabuisierte) Tonalität ausbalancierendes Werk von einer geschlagenen Stunde Spielzeit. Bis in seine letzten Jahre hinein pflegte Frederic Rzewski diesen Völker-hört-die-Signale-Hymnus auch selber vorzutragen. Für die Gebildeten unter den weltweiten Freunden Salvador Allendes – natürlich nicht nur für sie, aber für sie im Besonderen – jedes Mal eine Sensation, ein Hochamt des guten linken Gefühls. Dass Musik mehr ist als Technik, als Fingerfertigkeit, als Geschäft sowieso – hier konnte man es hören, erleben. Ohne Ethos keine Kunst. Das war die Überzeugung. Frederic Rzewski hat sie gelebt, hat sie auskomponiert.
Am 26. Juni ist er 83-jährig im toskanischen Montiano gestorben.