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Carmen im Einkaufszentrum und Barber beim Polo

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Der US-Dirigent John Axelrod erschließt der Klassik ganz neue Hörerschichten
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Als gehe es um „letzte“ Dinge – der Bitte des Künstlers, für die Zeit unseres Gespräches auf die Beschallung des Hotelfoyers zu verzichten, wird umgehend entsprochen. „You are welcome”, John Axelrod, der 34-jährige texanische Dirigent und Komponist gleitet lässig auf einen der umstehenden Fauteuils.

Als gehe es um „letzte“ Dinge – der Bitte des Künstlers, für die Zeit unseres Gespräches auf die Beschallung des Hotelfoyers zu verzichten, wird umgehend entsprochen. „You are welcome”, John Axelrod, der 34-jährige texanische Dirigent und Komponist gleitet lässig auf einen der umstehenden Fauteuils.Musik ist eine sehr abstrakte Sache. Über sie zu sprechen lohnt immer, zumal sie dann auch besser verstanden wird. Und je mehr Leute über Musik sprechen, desto objektiver wird die Aussagekraft eines solchen Diskurses. In diesem Sinne folge ich ganz der Idee des Symposiums, der dialogischen Annäherung an ein Sujet.” John Axelrod, das wird gleich zu Beginn des Gespräches deutlich, geht es um mehr als Musik, um mehr als nur profilierte Darbietung von Repertoire. Ebenso wichtig scheint ihm die sprachliche, mithin analytische Seite künstlerischen Schaffens zu sein. So verwundert es kaum, dass das Gespräch über Musik zunächst eine andere Richtung nimmt: Thema Musikkritik. Mehr Kompetenz sei hier gefordert, nicht nur im Falle der Kritiker, sondern aller Verantwortlichen, die in Sachen Musik kommunizieren. „Gefährlich subjektiv“, vor allem aber kriterienlos komme vieles daher, was über Musik gesagt und geschrieben werde, und das schade ihr. Wie also der sogenannten „Ernsten“ Musik eine möglichst breite Öffentlichkeit und „objektive“ Diskussions-Foren schaffen? Axelrod setzt in diesem Zusammenhang weniger auf die traditionelle Berichterstattung in den Print-Medien, als vielmehr auf Radio und Fernsehen, auf Massenmedien also, deren Struktur es erlaubt, nicht nur Kritiker und Musikwissenschaftler, sondern auch Musiker, Komponisten und das Publikum an einen Tisch zu bringen. Davon allerdings sei man noch meilenweit entfernt. Ein Grund, warum Axelrod immer wieder auf die Möglichkeiten des Internets zu sprechen kommt, dem einzigen Medium, wo derzeit „wirklich über Musik diskutiert wird und auch der musikalische Laie zu Wort kommt.“

Der Dirigent als Visionär, als zeitgemäß Unzeitgemäßer, als einer, der die eingefahrenen Spielregeln der Klassik-Szene zu subversieren sucht, um mit neuen Konzepten nicht nur ein größeres Publikum zu erreichen, sondern in erster Linie auch Bewusstsein für künstlerische Standards zu etablieren. Ziel Axelrods ist es, zu unverbrauchten Diskursen über Musik zu finden, und darüber hinaus den Kontext aufzubrechen, in dem Musik, klassische Musik, heute stattfindet; einen Kontext, der von der Mehrzahl der Künstler, der Veranstalter und von weiten Teilen des traditionellen Publikums selbst etabliert und reproduziert wird. Ausgegrenzt würden dabei jene, die mit den Regeln und Attitüden der Szene nicht vertraut seien, vor allem also Kinder, Jugendliche und nicht-kultursozialisierte Schichten.

Ist die Klassik-Szene demnach nicht mehr als ein Anachronismus, ein künstlich am Leben gehaltenes, ins 21. Jahrhundert herübergerettetes Gebilde ohne Lebenserwartung? Keine übertriebene Befürchtung, denn bereits heute stöhnt die Klassikbranche über Absatzverluste, und selbst renommierte Künstler spielen vor leeren Rängen. „Wenn sich nichts verändert, stehen wir bald ohne Publikum da. Dagegen müssen wir vorgehen und neue Ansätze finden: Die Ware, das Gut E-Musik muss wieder positiv ins Gespräch kommen.

Klassik muss in einen verständlichen Kontext gestellt werden und vor allem, sie muss allgegenwärtig sein. Will sagen, Klassik sollte zum Label avancieren, zu einem Label, das ebenso positiv besetzt ist, wie etwa das Stück Fleisch einer Fast-Food-Kette. Die Jugend sollte dahin kommen, zu sagen‚ heute gehen wir nicht zu Mc..., wir gehen zu Tschaikowsky.‘“
John Axelrod weiß, wovon er spricht. Denn für den international vielbeschäftigten Dirigenten (Engagements unter anderem beim Schleswig-Holstein-Musik-Festival, beim Orchestre National de Lyon, dem MDR-Sinfonieorchester, den Düsseldorfer Symphonikern und dem Nationalen Litauischen Sinfonieorchester), den Gründer, künstlerischen Leiter und Chef des in Houston ansässigen ORCHESTRA X und Ersten Gast-Dirigenten der renommierten Sinfonietta Cracovia gab und gibt es ein Leben jenseits des Dirigentenpultes. Und nicht nur das des Komponisten Axelrod, der etwa Dichtungen von Dylan Thomas oder Walt Whitman vertonte und eine Kammeroper schrieb, sondern auch das des Künstler-Managers, Musikverlegers, Veranstalters, Autors und Produzenten. Dass Axelrod zudem der Karriere so hochkaratiger Pop- beziehungsweise Rockmusiker wie Marc Cohn, Warren Hill, der Smashing Pumpkins oder Jellyfish auf die Sprünge half, spricht Bände. Und fragt man ihn nach seinen musikalischen Heroen, so überrascht es kaum, wenn neben Gershwin, Copland, Bernstein, Beethoven und Brahms auch Namen wie King Crimson, Emerson, Lake and Palmer, Yes oder Genesis enthusiastisch angeführt werden. Rockmusiker als Bezugsgröße für einen Klassik-Protagonisten – nicht einmal für Vertreter der jüngeren Generation typisch, von Ausnahmen abgesehen. Der Blick auf Axelrods musikalische Sozialisation verdeutlicht allerdings, wie sehr auch in diesem Fall frühe Prägungen Konzepte und Ideen zu beeinflussen vermögen.
„Als Kind war ich oft in der Kirche. Da meine Eltern viel arbeiteten, musste ich mich selbst beschäftigen. Ich hörte also diese wunderbaren Gospel-Musiker, ihren Jazz-inspirierten Gesang und kam immer wieder (...), bis mir eine der Musikerinnen anbot, bei ihr Klavierstunden zu nehmen.“

Gospel, Jazz, Klaviermusik – Grundsteine für eine beispielhafte Karriere: 1984 Abschluss „cum laude“ an der St. John’s School in Houston; 1988 der Bachelor’s Degree in Music von der Havard University. Nach siebenjähriger Tätigkeit in unterschiedlichen Bereichen der Musikbranche dann der Durchbruch für den Schüler von Leonard Bernstein (Komposition), Christoph Eschenbach (Dirigieren) und Lyle Mays (Jazz Performance): Mit dem ORCHESTRA X gründete Axelrod 1996 das, neben der Houston Symphony, zweite professionelle Ensemble der Metropole.

„X steht für außergewöhnliches Potenzial, für ein höheres Bewusstsein, für Experimentierlust und berauschende Konzerte“, rühmt die Kritik. Und tatsächlich setzt der kreativ-unkonventionelle Dirigent seitdem neue Maßstäbe in der texanischen Musikszene. „Eigentlich sind wir ein Rock‘n Roll-Orchester zum Ausprobieren revolutionärer Strategien“, bekennt Axelrod augenzwinkernd. Understatement angesichts stets ausverkaufter Konzerte, die zudem bisweilen an die 200.000 Menschen im Internet verfolgen. Wo also liegt das Erfolgsgeheimnis eines Orchesters, das, zumindest was sein Repertoire angeht, kaum anderes aufbietet als die Konkurrenz? „Geben Sie den Leuten Identifikationsmöglichkeiten, gehen Sie mit dem Orchester raus aus dem traditionellen Konzert-Ambiente, und Sie werden gewinnen!“ Der Klassik-Kosmos des ORCHESTRA X sieht folglich anders aus. Keine Tempel, heiligen Hallen, keine Götter in Frack und Fliege, sondern: Holsts „Planeten“ im Planetarium, Bizets „Carmen“ im Einkaufszentrum, ein Gershwin-Ellington-Abend im Club oder Copland und Barber auf einer Polo-Anlage. Faszinierend verkehrte Welt oder einfach nur der Ausverkauf hehren Kunstanspruchs?

Für Axelrod keine Frage, denn der Erfolg gibt ihm recht. „Die Erfahrung mit solchen Experimenten ist: Menschen, denen klassische Musik auf diese Weise nahe gebracht wird, sind später auch willens, traditionelle Konzertsäle zu besuchen und ihre musikalische Bildungsreise dort fortzusetzen.“

Marketing und Magie: Gegenpole, die in Axelrods Konzept zur harmonischen Koexistenz geführt werden – mit schlagenden Argumenten. „Künstlerische Integrität wird nicht durch Erfolg desavouiert, sondern nur durch schlechte Musiker.“

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