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Foto: Berliner Mozart-Chor
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Das innerste Erleben zum Klingen zu bringen

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Der Berliner Mozart-Chor feiert sein 100-jähriges Bestehen – Leiterin Sabine Fenske im Gespräch
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Nichts weniger als ein „Zauberer“ müsse Erich Steffen gewesen sein, sagt Chorleiter, Hochschullehrer und Ehrenpräsident des Chorverbandes Berlin, Reinhard Stollreiter über Erich Steffen, den Gründer des Berliner Mozart-Chores. Wie sonst solle es möglich gewesen sein, dass er es binnen kurzer Zeit schaffte, mit einfachen Volksschulkindern innerhalb eines Jahres einen so ausgezeichneten Kinderchor zu formen? Die Geschichte des Berliner Mozart-Chores ist eine beispiellose Erfolgsgeschichte mit Konzerten in In- und Ausland und mit unzähligen Aufnahmen, die vor 100 Jahren begann und bis heute anhält. Und sie beruht, wie Reinhard Stollreiter sagt, auf einem einfachen Geheimnis: die kindliche Seele mit den Liedern anzusprechen und das innerste Erleben zum Klingen zu bringen. Über die Geschichte und die Besonderheiten dieses außergewöhnlichen Chores sprach Thomas Otto mit der langjährigen Leiterin Sabine Fenske, die anlässlich des Jubiläums auch die Chronik des Chores herausgegeben hat: „Von Weißensee nach Wilmersdorf – 100 Jahre Berliner Mozart-Chor“

neue musikzeitung: Frau Fenske, von den 100 Jahren, die dieser Chor inzwischen besteht, singen die Mädchen und Jungen mehr als 25 Jahre unter Ihrer Leitung – ein Jubiläum im Jubiläum. Wenn Sie beides in die Waagschale werfen, welches wiegt schwerer?

Sabine Fenske: Die 100 Jahre! Ich vermute, dass der Mozart-Chor der älteste gemischte, konfessionslose Kinder- und Jugendchor Berlins ist, vielleicht sogar Deutschlands – oder gar Europas? (lacht). Er ist 1922 aus der Jugendmusikbewegung entstanden, deren Anhänger Erich Steffen, der Gründer des Mozart-Chores, war. Es sind viele Chöre in dieser Zeit gegründet worden, aber es hat meines Wissens keiner von ihnen überlebt. Der Mozart-Chor wurde gegründet zu Zeiten schlimmster Inflation und Warenknappheit, dann die Hitlerzeit, der Krieg. Nach dem Krieg wurde Erich Steffen inhaftiert. Erich Steffen nahm, als er nach fünf Jahren aus Sachsenhausen wieder freikam, eine Stelle als Musiklehrer in Wilmersdorf an, seither war der Chor im Westteil Berlins angesiedelt. Dann kam die Teilung Berlins, Kinder aus dem Osten, die, wenn der Chor auf Reisen ging, im Bus unter den Sitzen kauerten, in der Angst, dass die Polizei sie da wieder rausholt – solche Geschichten gibt es.  Naja, und dann die jüngste Krise: Corona. Wen hat sie am stärksten betroffen? Natürlich die Kinder und die Senioren, einschließlich ihrer Chöre. All das haben wir überstanden – es gibt uns immer noch.

nmz: Der Chor hatte in hundert Jahren gerade mal drei Chorleiter! Mehr Kontinuität geht eigentlich kaum. 1996 übernahmen Sie die Leitung des Mozart-Chores von Reinhard Stollreiter, der wiederum 1973 die Nachfolge des Gründungsdirektors Erich Steffen angetreten hatte. Baut man bei der Übernahme eines so sensiblen Instruments auf den Strukturen und Mechanismen des Vorgängers auf oder überwiegt der Drang, alles neu zu machen?

Fenske: Mein Wechsel Ende 1996 geschah überraschend und sehr schnell und zu meinen ersten Aufgaben gehörte das Vorbereiten des traditionellen Weihnachtskonzertes des Mozart-Chores. Und tatsächlich musste ich erst mal die Sänger fragen: Was singt ihr denn so bei diesen Weihnachtskonzerten? Als wir dann am Repertoire arbeiteten, stellte sich heraus, dass ich doch etwas andere musikalische Vorstellungen als mein Vorgänger Reiner Stollreiter hatte, mit dem ich bis heute befreundet bin, die ich behutsam zu verwirklichen begann.

nmz: Ein generelles Problem, vor dem auch der Mozart-Chor als Kinder- und Jugendchor stehen dürfte, ist die regelmäßige zyklische Erneuerung seiner jungen Mitglieder. Wie sichern Sie den Nachwuchs Ihres Chores?

Fenske: Früher wurde der Mozart-Chor in drei Gruppen unterteilt: Vorchor I, Vorchor II und Konzertchor. Ich mochte die Bezeichnung „Vorchor“ nie und wir haben sie umbenannt: bei uns gibt es jetzt den Mozart-Kinderchor, das sind die Kleinsten, dann die Mozartini und schließlich den Mozart-Chor, der ein Jugend- bis Erwachsenenchor ist.

nmz: Wie ist das mit den Kleinen? Für sie muss ja, wenn sie nachrücken, auch Ersatz gefunden werden?

Fenske: Das funktioniert von allein. Ich habe fast in jeder zweiten Probe neue Kinder zu sitzen und bekomme auch ständig Zuschriften: „Meine Tochter, mein Sohn… dürfen die kommen?“ Ja, klar – immer! Zu uns darf jeder kommen, es gibt keine Aufnahmeprüfung, kein Vorsingen. Man merkt schnell, ob sie geeignet sind und ob sie bleiben wollen. Die durchschnittliche Verweildauer eines Kindes im Chor beträgt zwei, drei Jahre. Aber es gibt auch Ausnahmen: Ich habe zwei Sänger im Chor, die sind seit 20 Jahren dabei!

nmz: Ihr Job als Leiterin des Chores ist ja durch verschiedene Aspekte geprägt: Repertoire, künstlerische Arbeit, Arrangements und Bearbeitungen – wer hilft, diesen komplexen Apparat am Laufen zu halten?

Fenske: Ich habe eine ganz tolle Stimmbildnerin – Ricarda Gross-Khachaturian – und eine tolle Korrepetitorin Frauke Losert. Und ich bekomme viel Unterstützung durch die Mitglieder unseres Vorstands.

nmz: Und wie ist das mit der Finanzierung und der Logistik des Probenbetriebs und der regen Reisetätigkeit, die diesen Chor seit seiner Gründung auszeichnet?

Fenske: Die Reisetätigkeit war in den 20ern bis in die 50er und 60er Jahre immer auch ein wichtiger sozialer Aspekt, denn für die Familien vieler Kinder waren Urlaubsreisen seinerzeit unerschwinglich. 1956, zu Mozarts 200. Geburtstag, hat Erich Steffen die „Mozartinum“-Gesellschaft gegründet. Er wollte ein Mozartinum bauen, ein Haus für Musik, eine Begegnungsstätte für Kinder und Jugendliche, mit Proben- und Konzertsälen, Sporträumen, Küche, Schlafsälen. Am Ende jedoch wurde nichts daraus. Aber die Idee begeistert mich nach wie vor. Die Mozartinum-Gesellschaft übernahm dann als gemeinnütziger Verein die Trägerschaft des Berliner Mozart-Chores und hat jetzt den Zweck, sie zu unterstützen. Außerdem zahlen alle Mitglieder inzwischen einen Chorbeitrag, auch der geht auf das Konto der Mozartinum-Gesellschaft.

nmz: In einem sehr frühen Konzertbericht heißt es: „…Wir staunen, daß es hier keine Notenblätter gibt … Erich Steffen lehrt nach der Tonika-Do-Methode…“ Wie ist heute die Arbeitsweise der Chorleiterin Sabine Fenske?

Fenske: Sie lehrt nicht nach der Tonika-Do-Methode… (lacht). Die Kleinen aus dem Mozart-Kinderchor lernen ein Lied so lange, bis sie es auswendig singen können. Aber ich lege Wert darauf, dass die Kinder auch Noten lernen. Notenschrift ist ja eine ganz intuitive Schrift, die schon rein optisch veranschaulicht, ob eine Melodie aufwärts oder abwärts verläuft, ob große oder kleine Tonschritte, lange oder kurze Töne zu singen sind. Wenn wir singen, stehen wir. Das Singen im Stehen ist physisch viel besser als das Singen im Sitzen. Das heißt, die Kinder stehen zwischendurch immer auf, was auch für Bewegung sorgt. Und ab und zu heißt es: „Mappen weg! Guckt mal, ob ihr das schon auswendig könnt…“ Mir geht es darum, dass sie beides können.

nmz: Kam Ihnen anlässlich beider Jubiläen eigentlich schon mal der Gedanke, die Arbeit mit dem Chor weiterzugeben, sie in andere Hände zu legen?

Fenske: Nein, ich mache diese Arbeit gern. So ein Kinderchor lässt sich sehr schwer aufbauen und ganz schnell zerschlagen – man braucht nur ein paarmal nicht zu proben und schon sind alle weg. Und auch ich hatte es anfangs schwer, als ich auch die Kinder übernahm, denn Kinder bauen über die Jahre zu ihren Chorleiterinnen und Chorleitern ein enges Verhältnis auf. Wenn da ein Wechsel geschieht, dann machen viele den nicht mit. Aber wenn die Sänger jetzt vom Kinderchor in den Jugendchor wechseln, den ich ja auch leite, dann behalten sie die gleiche Leiterin – vielleicht sinkt die Hemmschwelle damit – dann geht der Generationenwechsel hoffentlich leichter. 

Interview: Thomas Otto


Buch-Tipp

Sabine Fenske: Von Weißensee nach Wilmersdorf. 100 Jahre Berliner Mozart-Chor. vbb – Verlag für Berlin-Brandenburg 2022, Hardcover, 256 S. ISBN 978-3-96982-060-5

 

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