„musik-theater-werkstatt“ las sich so unfertig. Und mit seiner kleingeschrieben-untertreibenden Sachlichkeit lud der Name dazu ein, Zeuge zu werden von der Verfertigung einer Musik, die in einem besonderen Zusammenhang mit dem Theater stand. Tatsächlich fand man sich in einer Werkstatt zusammen, nämlich dem Malersaal des Staatstheaters Wiesbaden. Eingekeilt zwischen alten und frisch gemalten Kulissen und dem Geruch von Staub und Farbe, saß man auf schnell herbeigeschafften Klappstühlen, folgte den einführenden Worten einer barocken Dame und dann dem kleinbesetzten Ensemble, das mit dieser Abstellkammermusik etwas ganz Kostbares evozierte: eine von der Mehrheit verschmähte und deshalb von der öffentlichen Förderung stiefmütterlich behandelte Tonkunst, die, getragen nur vom Mut und dem Enthusiasmus einiger Weniger, trotzalledem wie ein zartes Pflänzchen im Untergrund sich Bahn bricht und vor den wenigen auserwählten Zuhörern aufs Wunderbarste sich entfaltet.
Carla Henius, Mezzosopranistin in Luigi Nonos Werken seit den 60er-Jahren, Solistin der singulären „Fabbrica illuminata“, war 1977 ans Musiktheater im Revier der Stadt Gelsenkirchen berufen worden, wo sie neun Jahre lang die „musik-theater-werkstatt“ leitete. Die Idee, neue Möglichkeiten des Musiktheaters ohne den Erfolgsdruck der sitzplatzausnutzungsorientierten Bühnen zu erproben, mündete schließlich unter der Bezeichnung „Forum Neues Musiktheater“ in einer Reihe von zeitgenössischen Kammeropern, die der Tradition der Zweiten Wiener Schule folgten. Vorher aber war Carla Henius dem Generalintendanten Claus Leininger nach Wiesbaden gefolgt, wo sie ihre „musik-theater-werkstatt“ neu auflegte. Und das war sicher nicht so einfach, wie es sich liest. Denn obwohl die seit 1896 stattfindenden Maifestspiele immer wieder auch die Klangkunst der Gegenwart nach Wiesbaden brachten und obwohl es George Maciunas ermöglicht wurde, dort 1962 die „Fluxus Festspiele Neuester Musik“ in die Welt zu setzen, gilt die Stadt der heißen Quellen und der Pensionäre als wilhelminisch konservativ. Doch Carla Henius, mit den glorreichen Tagen einer immer umstrittenen Musik im Rücken und einem Ziel vor Augen, das den Anspruch der Musik selbst stets vor dem mehrheitlichen Applaus behauptet, setzte auf Kontinuität. Nachdem sie 1995 in einem Rundfunkinterview davon gesprochen hatte, dass sie einen Nachfolger suche und wie schwer es sei, jemanden zu finden, bewarb sich Ernst August Klötzke bei ihr.
Klötzke, Jahrgang 1964, der Musikwissenschaft in Heidelberg und Freiburg, Komposition in Essen studiert hatte, war Carla Henius bereits kurz zuvor als Disponent des Ensembles „MusikFabrik“ begegnet. Zunächst musste er sich auf Figaro, Salome und Wozzeck vorbereiten, machte aber keine gute Figur, als er nicht nur den Klavierauszug spielen, sondern auch noch jede Stimme des Figaro singen sollte: Man hatte ihn irrtümlich für den neuen Korrepetitor gehalten. Im Herbst 1996 begann er an der Seite von Carla Henius, sich der Wiesbadener Herausforderung zu stellen, um nach ihrem Abschied 1998 als künstlerischer Leiter das Erbe der „musik-theater-werkstatt“ zu übernehmen. Auf dieses Erbe aufbauend, hatte sich sein Interesse indessen der eigenen Generation zuzuwenden.
Mit dem Geld, das aus dem Gesamtetat des Staatstheaters abgezweigt wird, und der enormen – und nicht nur – finanziellen Hilfe, die die „Gesellschaft der Freunde des Staatstheaters“ jede Spielzeit für die „musik-theater-werkstatt“ erbringt, ist ein kleines, aber feines Programm möglich. Drei Motive leiten die Gestaltung. Das erste bezieht sich auf den Gesamtverbund des Staatstheaters Wiesbaden, als dessen Teil sich die „musik-theater-werkstatt“ versteht. Mit Blick auf die Planungen in Oper, Schauspiel, Ballett und Jungem Staatstheater werden thematisch ergänzende Veranstaltungen angeboten, so etwa ein Konzert im Stile Italiano anlässlich der „Turandot“ von Puccini oder eins in der französischen Tradition anlässlich der Oper „Platée“ von Rameau, aber auch Vorträge wie der zur „Kassandra“ anlässlich der Oper „CassandraComplex“ von Gerhard Stäbler. Das zweite Motiv ergibt sich aus dem Anspruch, das Publikum mit dem gegenwärtigen Stand des Komponierens bekannt zu machen. Kontinuierlicher Kontakt zu Komponisten und Ensembles, Gespräche mit Kollegen und das Studium von Partituren lassen die Entwicklungen nachvollziehen und Tendenzen erkennen. An dritter Stelle steht die Arbeit mit einem festen Ensemblestamm, aber auch mit Gastensembles, um den Stand der Interpretation Neuer Musik immer wieder neu zur Diskussion zu stellen. Wer sich bewusst macht, welchen Schaden das Ansehen der zeitgenössischen Musik durch miserable Interpretationen – insbesondere in den zwei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg genommen hat, wird ahnen, dass die Ex-und-hopp-Mentalität der obligatorischen Uraufführungsprogramme nur eine Fortsetzung der Misere ist. Der Aufbau und die Pflege des Repertoires bewirken erstaunliche Veränderungen der Musik selbst. Sie bringen erst ihre Qualität hervor. Dass aus dieser intensiven Zusammenarbeit der Ensembles mit der „musik-theater-werkstatt“ ein Netzwerk entstanden ist, in dem auch die relativ schmalen Honorare nicht geheim bleiben, verwundert nicht.
Nimmt man also die letzten zehn Jahre in den Blick, so kann sich die „musik-theater-werkstatt“ mit ihren bescheidenen Mitteln durchaus sehen lassen. Das musikalische Angebot reicht von Guillaume Dufay bis Natalia Solomonoff; mit dem Schlagquartett Köln und den Ensembles „recherche“, „Avance“, „MusikFabrik“, „Aventure“, „belcanto“, „Avantgarde“, „L’Art pour l’Art“ und „Mutare“ steht eine große Palette interpretatorischer Möglichkeiten zur Verfügung. Aus gegebenen Anlässen eingestreute Portraitkonzerte und vor allem die aufwendigen, musiktheatralischen Angebote wie „Out of Cage“ zu Anfang, Klötzkes Kammeroper „Die Legende vom armen Heinrich“, die szenische Kammermusik „Nachtstück mit Fenster“ von Manos Tsangaris, die Performance der Formation HCD, Strawinskys „Histoire du Soldat“ mit Studenten der Frankfurter Musikhochschule im Rahmen der Hessischen Theaterakademie, Mauricio Kagels „Der perfekte Ton“ mit dem Jungen Staatstheater oder „5:8“ für Licht, Tanz, Stimme und Percussion von Gerhard Müller-Hornbach halten die ursprüngliche Idee der „musik-theater-werkstatt“ lebendig. Und selbstverständlich möchte man davon mehr haben. Die, die dabei nur die Kosten interessant finden und die magische Frage nach der Platzausnutzung stellen, müssen zur Kenntnis nehmen, dass die Plätze zuweilen geradezu schamlos ausgenutzt werden: 2001, als das „Klangforum Wien“ mit dem anspruchsvollen Programm „Farbenlehre“ zu Gast war; 2002, bei „40 Jahre Fluxus“; natürlich beim Gesprächskonzert Krzysztof Pendereckis 2006 oder bei der Neuen Musik des Ensembles „Ascolta“ zu alten experimentellen Stummfilmen 2006; und auch 2007, zu Ligetis „Poème symphonique“ für 100 Metronome und zur „Visualisierten Musik“ in der Wartburg 2008 kamen mehr Interessierte, als man erwarten durfte. Das Stammpublikum ist übrigens immer da, und zu den „Elektronischen Konzerten“, die Ernst August Klötzke seit 2003 veranstaltet, reichert es sich sichtlich mit Hörern der jüngeren Generation an. Diese weit und breit einzigartige Lautsprecherkonzertreihe im Opernfoyer bietet elektroakustische und elektronische Musik an, die sonst in Deutschland kaum öffentlich gespielt wird.
Die Beteiligung der „musik-theater-werkstatt“ an den Internationalen Maifestspielen wird gewöhnlich von den prominenten Namen und Bühnen verdeckt, die den Löwenanteil an Aufmerksamkeit und Budget beanspruchen. Dabei hatte sie nichts Geringes zu bieten. 1998 inszenierte Reinhild Hoffmann in einer multiplen Koproduktion mehrere Stücke von John Cage mit der „MusikFabrik“, und Heinz-Karl Gruber beging mit dem Klangforum Wien den 100. Geburtstag von Hanns Eisler; die Neuen Vocalsolisten Stuttgart kamen im folgenden Jahr, dann das Ensemble Modern mit Werken von Kurt Weill, 2006 organisierte Robyn Schulkowsky ihr Stück „Alberichs Appell“ für zwölf Schlagzeuger, nachdem Ernst August Klötzke mit den „RingSignalen“ für Blechbläser das Festival eröffnet hatte. Die freundliche Aufnahme solcher Klangportale ermöglichte Klötzkes Eröffnungsstück 2007, „Eco de Mayo“ für Blechbläser, dem 2008 „... in der Luft dieses Rauschen ...“ für Blechbläser folgen wird. Zum ersten Mal wird dann – am 5. Mai – im Innenhof des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden ein Elektronisches Nachtkonzert stattfinden.
Dass Ernst August Klötzke Komponist ist, hat man in Wiesbaden dankend zur Kenntnis genommen. Gilt es doch, nach Bedarf über Nacht Schauspielmusiken vorgelegt zu bekommen, die sich die Regisseure erträumen. Klötzke, der bei Wolfgang Fortner lernte, bei Nicolaus A. Huber und Dirk Reith studierte, ist mit dieser versiert-sportlichen Kunst denkbar weit von den hochgesteckten Zielen entfernt, die ihm seine Lehrer mit auf den Weg gegeben haben. Aber die Herausforderung anzunehmen und dieser Aufgabe gerecht zu werden, ist er ehrgeizig genug. Dass diese ganz praktische, funktionale Bühnenmusik, die er in verschwenderischem Ausmaß produzierte, mittelbar auch seinem eigenen Schaffen zugute kommt, lässt sich ahnen; dass sie in seinem Werkverzeichnis nicht vorkommt, ist verständlich. Denn wichtig ist für ihn, den geerbten hohen Anspruch des zeitgenössischen Komponierens in einer stark veränderten Situation seinen persönlichen Möglichkeiten verfügbar zu machen. Nach der langen Liste mit Kompositionen für alle möglichen Besetzungen – darunter das bemerkenswerte, strukturell changierende Klavierkonzert „Trompe l’Oeil“ – die Klötzke vor 1998 geschrieben hatte, hat er sich mit größeren Arbeiten – neben den Ballettmusiken „Versus“ und „Anapnoë“ – mit der erwähnten Kammeroper „Die Legende vom armen Heinrich“ (Libretto: Tankred Dorst) und dem hessischen „Hymnus“ für Orchester und sechs Chorgruppen hervorgetan, vor allem aber mit sehr unterschiedlicher Kammermusik, mit der er immer wieder da hin tritt, wo er hin muss: über die Grenze. „Ich vertraue meinem Hören viel mehr als früher“, sagt er heute. Das ist kein Widerspruch, eher ein Versprechen. Ernst August Klötzke hat ein elektronisches Musiktheater für Kinder geschrieben, das am 26. April 2008 am Hessischen Staatstheater Wiesbaden Premiere hatte – „Märchen von einem der auszog, das Fürchten zu lernen“.