„Denken Sie an einen Techno-Club, wenn Sie diese Stelle spielen!“ Bei seinen Proben mit dem Baltic Youth Philharmonic spricht Kristjan Järvi unverblümt die Lebenswelten der jungen Musiker an, um aus ihnen in wenigen Proben ein Orchester zu formen. Nur einige sind dieses Jahr zum wiederholten Male dabei. Die meisten der knapp einhundert Studenten aus allen Ostsee-Anrainerstaaten haben sich gerade erst kennengelernt. Und im Juli beginnt ihre Tournee. Von Oslo bis nach Pärnu in Järvis Heimat Estland – von St. Petersburg bis zum Usedomer Musikfestival, dem Initiator dieses Projektes, welches von den Betreibern der Ostseepipeline finanziert wird. Am 10. August spielt das Orchester bei Young Euro Classic in Berlin.
Nun sitzen die Rekruten aus den Musikhochschulen rund ums Baltikum also bei den Proben im Berliner Haus des Rundfunks. Hinter ihnen lauern „Coaches“ auf technische Fehler – je einer pro Register – und vor ihnen spricht Kristjan Järvi von „Techno-Trance“ und „Great Fun“. Für die Vermittlung der lustvollen Barbarei von Strawinskys „Le Sacre du Printemps“ mag das noch angehen. Aber Sibelius und „guter Sex“? Wer sich um die Würde der klassischen Musik im 21. Jahrhundert sorgt, dem mag angesichts solcher Metaphern das Blut in den Adern gefrieren. Kristjan Järvi allerdings ist nicht der Typ, der sich derartige Sorgen macht. Und vielleicht ist er gerade deshalb der Richtige dafür, die simple Kraft des „Great Fun“ zu zähmen. Amerika hat den Estländer geprägt. Von seiner Arbeit mit technisch brillanten Orchestern dort kennt er es als vorrangiges Problem, die Leidenschaft der Musiker zu wecken. „Der Ansatz ist der gleiche in allen Ensembles, mit denen ich arbeite: eine fundamentale menschlich-rhythmische Grundidee der Phrasierung, die in Konservatorien oft vernachlässigt wird. Vor allem aber geht es darum, immer wieder zu spielen als wäre das heute dein letztes Konzert.“ Järvi stand an den Pulten des London Symphony Orchestra, des Gewandhausorchesters oder des Orchestre National de France. Man darf ihm ruhig glauben, dass selbst solche Orchester nicht vor trister Routine gefeit sind. „Manchmal vergessen wir, warum wir eigentlich Musik machen. Wir müssen den Spaß beim Spielen wiederfinden, um wirklich lebendige Musik zu machen.“
Dazu gehört für Järvi eine Offenheit gegenüber den heutigen Realitäten; auch in puncto Repertoire. 1993 gründete er als Klavierstudent in New York das Absolute Ensemble, das anfangs bloß ein typisches Genre-übergreifendes Seitenprojekt zwischen Bach, Jazz und Weltmusik war. Inzwischen haben Järvi und seine fusionsfreudigen Mitstreiter aber zahlreiche CDs mit Koryphäen wie zum Beispiel Joe Zawinul (Weather Report) aufgenommen und touren weltweit.
Trotzdem ist es für Järvi mit Nischenprojekten für urbane Querdenker nicht getan. Deren Geist trägt Järvi zurück in seine traditionelle Orchesterarbeit, wo er viele zeitgenössische Komponisten aufführt, beispielsweise Daniel Schnyder, John Adams oder seinen Landsmann Arvo Pärt, dessen dritte Sinfonie er gerade aufgenommen hat. Sie ist ein Meilenstein einer populären Klassischen Musik, die wieder die Herzen der Massen erobern möchte wie einst Beethoven oder Liszt. „Was wir heute brauchen ist eine breite Begeisterung. Und die entsteht durch eine leidenschaftliche Aufführung von Musik, von großer Musik. Egal ob in der Klassik, im Rock oder in der Weltmusik. Das hat nichts mit Plakativität zu tun.“
Das Hauptübel sieht Järvi in der klanglichen Armut innerhalb der Szenen, wo sich zu viel Musik abschottet. Einen großen Teil der Neuen Musik, den er als „unhörbar“ bezeichnet, ignoriert Kristjan Järvi deswegen respektvoll. „Es gibt viele großartige Musiker in den verschiedenen Bereichen. Sie alle suchen, aber unglücklicherweise kommen sie nicht zueinander dadurch, sie begegnen sich gar nicht.“
Kristjan Järvi, kleiner Bruder von Paavo Järvi und Sohn von Neeme Järvi, ist damit übrigens nicht das schwarze Schaf der Dirigentenfamilie. „Niemand glaubt mehr an das, was ich sage, als mein Bruder. Und mein Vater hat mir oft Sachen wie ‚Ain’t Misbehaving‘ oder sogar ABBA vorgespielt und gesagt: ‚Hör nur, was für wunderbare Musik!‘ Wir sind normale Menschen und wir lieben alles Neue, wenn es nur gut ist.“ In ihren privaten Lebenswelten sind die Musiker der verschiedenen Sparten sich heute längst sehr nahe. Järvi ist missionarisch, wenn er all diese Kräfte für die Konzerthäuser einfangen und bändigen möchte. Nicht weniger als eine Renaissance der klassischen Musik schwebt ihm dann vor: „Wenn mehr Leute sie selbst wären, dann hätten wir eine bessere Welt.“
Diesen gewaltigen Optimismus darf man sicher für ein bisschen naiv halten. Für den umtriebigen Järvi ist er fruchtbar. Am 10. August dirigiert er die Baltic Youth Philharmonic bei Young Euro Classic in Berlin mit einer musikalischen Tour um die Ostsee. Auf dem Programm stehen Sibelius, Strawinsky – und Imants Kalnins mit einer „Rock Symphony“.
Konzerttermin Young Euro Classic: 10. August, Konzerthaus Berlin, 20 Uhr (Konzerteinführung 19 Uhr)
Jean Sibelius – Symphonie Nr. 7 C-Dur op. 105 (1924)
Daniel Schnyder – parkour musical, Uraufführung
Imants Kalninš – 1. Satz aus der Symphonie Nr. 4 „Rock Symphony“ (1972)
Igor Strawinsky – Le Sacre du Printemps (1913)