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Alles steht durcheinander. Spuren des Umzugs zeigen sich, wohin man blickt. Die gesamte Familie ist dabei, die neue Heidelberger Wohnung einzuräumen, sich einzurichten. Das Interview findet folglich improvisiert in der Küche statt. Bald erscheint sie dann, ein blondes Mädchen von fast fünfzehn Jahren, und beginnt, professionell auf meine Fragen zu antworten. Seit dem vierten Lebensjahr spiele sie Geige, den ersten Unterricht erhielt sie vom Vater, ja, sie wollte schon immer gern Geige spielen – Antworten, die stereotyp klingen, es aber nicht sind. Alina äußert sich in ihrem Metier – Musik – engagiert, ernst und macht deutlich, daß sie weiß, wohin sie will – nach oben.Alina Pogostkin, in Rußland geboren, trat bereits mit fünf Jahren öffentlich auf, mit sieben konzertierte sie fast monatlich in St. Petersburg, spielte bereits das d-Moll-Konzert von Wieniawski. Seit 1992 lebt die Familie in Deutschland, von 1996 bis 1997 wurde sie am Mozarteum bei Professor Ruggiero Ricci ausgebildet. Momentan wird sie noch von ihrem Vater, Alexander Pogostkin, unterrichtet.
Erfolge und Erfahrungen hat das junge Talent schon viel gesammelt, ihr Lebenslauf seit 1992 liest sich beeindruckend: Unter anderem 1. Preisträgerin beim Internationalen Louis-Spohr-Wettbewerb Weimar (Oktober 1995), 1. Preisträgerin beim Bundeswettbewerb „Jugend musiziert“ 1998, Siegerin beim 7. Internationalen Ludwig-Spohr-Violin-Wettbewerb in Freiburg 1997 (in der Altersklasse von 16 bis 32 Jahren) sowie ein Sonderpreis für die jüngste Teilnehmerin, Meisterkurse bei Dorothy Delay (USA) oder auch bei der Rudolf-Eberle-Stiftung in Aspen/Colorado auf Empfehlung von Anne Sophie Mutter, Konzerte bei den Internationalen Mozartwochen, dem Mozartfest in Schwetzingen sowie mit G. Roshdestvensky, K. Poppen und so fort. Dennoch: Die Konkurrenz, gerade im Fach Violine, ist erdrückend. Talent genügt bei weitem nicht. Hat man die ersten Erfolge errungen, sind für die weitere Karriere finanzielle Unterstützung, Werbung, Public Relations und Kontakte mindestens genauso- wichtig. Dabei ist gerade in jungen Jahren die persönliche Entwicklung noch gar nicht absehbar. Wer weiß, wie es mit 20 aussieht? Ihr Berufswunsch? Alina: „Ich möchte Musik, also Geige studieren, ganz klar.“
Vieles scheint ihr bisher zugefallen zu sein, ein Naturtalent, wie es selten auftritt. Dies beweisen auch die vielen Empfehlungsschreiben, Lobeshymnen, Urkunden und Begleitschreiben unter anderem von Yehudi Menuhin, Anne Sophie Mutter, Daniel Barenboim oder Kurt Masur. Sie ist eine Meisterin ihres Faches und hat bereits mit den Großen ihrer Zunft zusammengearbeitet. Doch für die Zukunft benötigt sie dringend Sponsoren – Konzertreisen und Ausbildung sind teuer, und die Familie bezahlt schließlich alles aus eigener Tasche. Wie stark man auf Geldgeber angewiesen ist, zeigt sich daran, daß mehrere Konzertprojekte in den USA – einige Orchester sind sehr interessiert, mit dem jungen Geigenstar zusammenzuarbeiten – noch nicht finanziell abgesichert sind. Alina Pogostkin ist Stipendiatin der Deutschen Stiftung Musikleben, einer Einrichtung, die sowohl die Eltern als auch Alina sehr hoch einschätzen. Ohne deren Hilfe und Unterstützung wäre die Karriere der jungen Geigerin anders verlaufen.
Insgesamt scheint die junge Künstlerin den Streß, viel unterwegs zu sein, mit Konzerten umherzutouren, üben und immer mehr Interviews zu geben, locker wegzustecken – ganz Profi eben. „Ich lebe davon“, meint sie einfach. Stillsitzen behagt ihr nicht. Wenn sie einen Monat Schulferien hat, wäre ein Nicht-Üben undenkbar: Die Neugier des Entdeckens. Wenn das Thema Musik aufkommt, blüht sie auf. Egal, ob Beethoven, Sibelius, Gesang, Harmonielehre, Klavier – hier diskutiert sie, weil sie sich auskennt und weil sie prinzipiell neugierig ist, nicht nur, aber hauptsächlich auf Musik. Sie macht einen in sich gefestigten Eindruck, daß hier kaum der Verdacht aufkeimt, ein „Wunderkind“ wird über die Maßen gefördert. Freunde hat sie genug, und Lesen liebt sie. Ihr Lieblingskomponist ist Chopin, auch Mozart, Bach („sehr intellektuell“) und Brahms schätzt sie sehr. Nur mit der modernen Musik hapert es noch, momentan ist sie bei Hindemith. „Zeitgenössische Musik – das kommt mit der Zeit“, meint ihr Vater – und damit hat er recht. Eine normale Entwicklung bahnt sich an. Wenn die Reife da ist, kommen auch Ligeti, Lachenmann und anderes.
Erstaunlich, daß sie durchschnittlich mit zwei bis vier Stunden pro Tag Üben auskommt. Darauf weiß sie auch keine Antwort, sie akzeptiert einfach ihre erstaunliche Begabung. Sie weiß, daß sie üben muß, aber ein enger Tagesplan – die Schule ist schließlich auch noch da – zwingt noch zu Kompromissen. Die Eltern, beide Berufsgeiger, treten zurück, arbeiten hauptsächlich für die Karriere ihrer Tocher, organisieren, reisen, versuchen, die normale Entwicklung eines Teenagers mit der einer enorm begabten jungen Musikerin in Einklang zu bringen.
Demnächst stehen Konzerte im Münchner Gasteig auf dem Programm: am 10. Oktober mit dem Tschaikow-sky-Violinkonzert und am 23.12. mitdem Vivaldi-Violinkonzert. Ein weiterer Schritt auf dem mühevollen Weg zur Solistin. Vor kurzem hat sie erstmals öffentlich das Brahms-Konzert gespielt. Von Aufregung keine Spur, nur innerliche Gespanntheit, Neugierde auf das Erlebnis Brahms. Eine letzte Frage. Mag sie Popmusik? Ein verschämtes Lächeln: „Eigentlich eher nicht, nur Michael Jackson.“