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Erroll Garner und Victor Venegas im Mai 1970 in der Berliner Philharmonie. Foto: Bayerisches Jazzinstitut/Ludwig Binder
Erroll Garner und Victor Venegas im Mai 1970 in der Berliner Philharmonie. Foto: Bayerisches Jazzinstitut/Ludwig Binder
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Gottes Geschenk an die Klaviertasten

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Zum 100. Geburtstag des beglückenden Piano-Magiers Erroll Garner · Von Ernst Burger
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Kein Geringerer als „Dizzy“ Gillespie hielt ihn für den „begnadetsten Pianisten, den wir je hatten“, der Jazzpianist Billy Taylor nannte den knapp 160 cm großen Erroll Garner den „Giganten unter den Jazzpianisten“ und George Shearing schreibt in seiner Autobiografie „Lullaby of Birdland“: „There‘s never been another pianist quite like Erroll Garner, and I don‘t think there ever will be.“

Erroll Garner war um die Mitte des 20. Jahrhunderts weltberühmt und der populärste aller Jazzpianisten, bekannter und beliebter als der etwa gleichaltrige Oscar Peterson, der übrigens Garner sehr bewunderte („Erroll war einzigartig“). Der wohl bedeutendste Jazzkritiker jener Zeit, Dan Morgenstern, hielt ihn zudem für den „erfolgreichsten und gefeiertsten Jazzmusiker seiner Generation“. Erroll Garner war der erste Jazzmusiker, der mit einer Schallplatte („Concert by the Sea“) eine Verkaufsziffer von einer Million erreichte und er war der einzige Jazzmusiker, der von einem Topagenten der Klassikszene, Sol Hurok, der sonst nur Weltstars wie Schaljapin oder Artur Rubinstein unter seine Fittiche nahm, mehrere Jahre lang gemanagt wurde.

Um so verwunderlicher ist es, dass Garner heute etwas in Vergessenheit geraten ist. 30-Jährige kennen seinen Namen kaum mehr, allenfalls heißt es „hat der nicht Misty komponiert?“, wohingegen hin und wieder 80-Jährige, die noch einige seiner zahlreichen Schallplatten besitzen oder ihn im Konzert gehört haben, leuchtende Augen bekommen.

Einige Kritiker haben behauptet (und andere plapperten es nach), Garner habe keinen Einfluss auf die Entwicklung des Jazz ausgeübt. Es verhält sich aber anders: Erroll Garner hat die Spielweise der Jazzpianisten ebenso beeinflusst wie Milt Buckner, Art Tatum oder Teddy Wilson. Der schon zitierte, mehr als kompetente Billy Taylor sagte 1977: „Garner lehrte uns alle, das Klavier auf eine neue Art zu spielen […] und wir hören ihn in fast jedem, der heutzutage Klavier spielt.“ Garners typische Spielweise, das „Garnern“, ist zum festen Begriff in der Jazzszene geworden und auch klassische Pianisten versuchen sich gelegentlich darin. Der Pianist Nelson Freire erzählte einmal, er habe Martha Argerich manchmal dabei ertappt, wie sie versuchte, im Stile Garners zu spielen.

Swing als Selbstverständlichkeit

Garner konnte sehr wohl Bebop, Modern Jazz oder Free Jazz spielen, tat es aber selten oder gar nicht. Er hatte erkannt, dass er mit seinem Stil beim Publikum Erfolg hatte. Im Gegensatz zu so manchen heutigen Jazzern, deren Improvisationen sich oft so weit vom Thema entfernen, dass man das Stück kaum oder gar nicht mehr erkennt, bleibt Garner immer verständlich und verliert sich nie in verworrenen Improvisationen. Es gehört zu seinen großen Verdiensten, dass er Anfang der 1950er-Jahre, als seine Schallplatten in Europa populär wurden, viele Menschen, die sich nie mit Jazz befasst hatten, für diese Art von Musik begeisterte, nicht zuletzt deshalb, weil sein Spiel melodiös und leicht verständlich war. „Wenn ich jemanden mit auf eine Reise nehme, möchte ich ihn nicht in die Irre führen und ihn auch wieder zurückbringen“, äußerte er einmal.

Eine der schönsten Seiten des Jazz ist der Swing, für viele Jazz-Fans ist es immer noch am wichtigsten, dass die Musik swingt – und Garner konnte swingen wie wohl kein anderer Jazzpianist. Erinnern wir uns an Oscar Petersons Worte aus dem Jahr 1990: „Dass man auf dem Klavier wirklich swingen kann, hat uns Erroll bewiesen.“

Garner spielte meistens reinen Jazz. Richtig ist jedoch, dass es ihm bisweilen Spaß machte, wie ein Cocktail-oder Barpianist zu spielen, vor allem in seinen manchmal fast überromantischen balladesken Stücken wie „Pas­tel“, „Laura“, „Stardust“ oder „Blue Ecstasy“. Es sind solche Aufnahmen, bei denen es einige Jazzpuristen für angebracht halten, die Nase zu rümpfen.

Erroll Garner wurde am 15. Juni 1921 in Pittsburgh, Pennsylvania, geboren. Er galt als Wunderkind. Schon als Dreijähriger setzte er sich ans Klavier und spielte die Stücke, die er aus einem Nebenzimmer seine älteren Schwestern oder deren Klavierlehrerin spielen hörte, aus dem Gedächtnis nach. Er erhielt nie Klavierunterricht und erwarb sich nie irgendwelche Kenntnisse in Harmonie- oder Kompositionslehre, ja, er konnte nach allem, was wir wissen, nicht einmal Noten lesen. Angesichts dieser Unberührtheit von all dem, was man gemeinhin als „Ausbildung“ für unerlässlich hält, muss er alles intuitiv erfasst haben, was er um sich herum hörte und was er für seine Kunst brauchte. Auf die Frage, wie er das alles anstelle, sagte er einmal: „A beaver don’t have to go to engineering school to know how to build a dam.“ Selbst seine phänomenale Klaviertechnik – und hierin war er allen Jazzpianisten, vielleicht mit Ausnahme des legendären Art Tatum, überlegen – scheint ebenso von Anfang an vorhanden gewesen zu sein. Jedenfalls übte er nie und als er später in New York lebte, hatte er über Jahre hinweg nicht einmal ein Klavier in seiner Wohnung.

Als Jugendlicher spielte er in den Bars und Tavernen von Pittsburgh und Umgebung sowie auf den Riverboats des Allegheny-Flusses, die immer volles Haus hatten, wenn es hieß „ On piano Erroll Garner“. Im August 1944 siedelte Garner nach New York über und wurde bald der Liebling der dortigen Jazzszene. Das „Three Deuces“ war der renommierteste Nightclub der 52. Straße, hier spielte das berühmte Art Tatum Trio mit Tatum am Klavier, dem Gitarristen Tiny Grimes und Slam Stewart am Bass. Als Tatum erkrankte, gab es für Slam Stewart nur einen, der ihn ersetzen konnte: Erroll Garner. Tatum soll übrigens kurz vor seinem frühen Tod (1956) zu Ben Webster gesagt haben: „Look out for the little man, Erroll… take good care of him… look out for him … he’s the last of our kind … when he goes, our kind of music is dead.“

Im Mai 1948 verlässt Garner Amerika zum ersten Mal, um in Paris für sein im Juni 1947 eingespieltes „Play Piano Play“ den Grand Prix du Disque entgegenzunehmen. Mit großem Erfolg konzertiert er im Théâtre Marigny. Zurückgekehrt erobert er die gro­ßen Säle in den USA und in Kanada. Am 9. April spielt er in der Carnegie Hall. Am 1. Dezember 1957 kommt Garner für einen Monat wieder nach Paris, wo er begeistert empfangen wird. Boris Vian holt ihn vom Flughafen ab.

Mit einem Konzert am 10. Mai 1962 in München startet Garner nun seine alljährlichen Europatourneen, die ihn in die großen Klassik-Konzerthäuser wie das Concertgebouw Amsterdam oder die Berliner Philharmonie führen, später spielt er auch in Japan und Australien. Garner wird weltberühmt, seine Schallplatten werden Bestseller. Die Kritiker bezeichnen ihn als „Picasso des Klaviers“ oder „God’s gift to the piano keys“. Er wird vom Publikum geliebt, von Kollegen hochgeschätzt. In einem Interview mit Tim Clausen sagte Dave Brubeck einmal: „There is hardly anyone that can come up to Erroll’s level, maybe Tatum, but Erroll’s way up there“. Und George Shearing stellte fest: „Nobody can play the way Erroll Garner did“, schließlich Vladimir Horowitz: „ I wished that I could play the piano that way.“

Am 8. April 1975 diagnostiziert man bei Garner, einem starken Raucher, Lungenkrebs. Ende 1976 breiten sich die Metastasen zum Herzen hin aus. Am 2. Januar 1977 stirbt Erroll Garner unter großen Schmerzen in Los Angeles, wo er seit mehreren Jahren gelebt hatte.

Garners Stil

Im Gegensatz zum rein pianistisch geprägten Stil eines Art Tatum, Teddy Wilson oder Oscar Peterson pflegte Garner ein mehr orchestrales Spiel mit vollgriffigen, oft tremolierenden Akkorden, die Begleitstimmen der linken Hand meist arpeggiert, eine Gitarre imitierend. Die rechte Hand hinkt fast immer hinter der linken her. Dieses Verschleppen der Rechten gegenüber der Linken, dieses unterschiedliche Spiel der beiden Hände also, wurde Garners Markenzeichen und macht ihn sofort identifizierbar. Der uneingeweihte Hörer hat oft das Gefühl, Garners Melodiehand komme etwas zu spät, aber das Timing stimmt ganz genau. Ein weiteres Garner-Merkmal sind seine Introduktionen, manchmal nur einige kadenzierende Takte wie in „Just one of those things“ (Notenbeispiel 1 - siehe JazzZeitung.de).

Meistens aber klimpert er scheinbar planlos in fremden Tonarten herum, nervt mit dissonanten Akkordreihen und hat eine diebische Freude dabei, die Zuhörer und auch seine Mitspieler auf die Folter zu spannen. Endlich, mit einem listigen Zwinkern, bringt er das Thema, begleitet von einem federnden Drive seiner linken Hand. Allgemeines Aufatmen, Zwischenbeifall, zufriedenes Grunzen bei Garner, der nun seine großen braunen Augen rollt – ein wahrhaft sprühender Entertainer. Über seine Clownerien vergisst man allzu leicht, welch großartiger Musiker Garner war. Seine melodischen Einfälle waren unerschöpflich, sein Improvisationstalent war grenzenlos, seine Chorusse fantasievoll, seine pianistischen Fähigkeiten erstaunlich, er konnte zum Beispiel mit fixierter Hand in rasendem Tempo und makelloser Reinheit über viele Takte hinweg Oktavläufe, meistens mit Akkordfüllung, ausführen, etwas, das in der Pianistenszene bis heute wahrscheinlich unerreicht ist. Der Pianist Harry Field hörte ihn oft auch im privaten Kreis und berichtet, Garners Oktavläufe seien „konkurrenzlos“ gewesen, „schneller als die von Horowitz.“ (Notenbeispiel 2 – siehe JazzZeitung.de)

Für Garner war alles selbstverständlich, er kannte keinerlei Nervosität, auch nicht  wenn er wie am 16. Oktober 1959 in der ausverkauften Carnegie Hall spielte. („I go out there, sit down at the piano and say, fingers, do your number!“) Proben vor Konzerten oder Schallplatteneinspielungen lehnte er zum Entsetzen seiner Mitspieler ab. „Just sit down and play“ sagte er gewöhnlich. George Avakian, in den 1950er-Jahren Aufnahmeleiter bei Columbia – er gab auch Garners legendäres „Concert by the Sea“ heraus –, erzählte dem Verfasser viel über die Art, wie Garner aufnahm. Nie musste man ein Stück wiederholen oder schneiden, einen Titel wie „Will you still be mine“ hatte Garner nie zuvor mit seinen Begleitern Eugene „Fats“ Heard und Wyatt „Bull“ Ruther gespielt: die erste Einspielung blieb unangetastet.

Garners Spielweise hat sich im Lauf seiner Karriere nie wesentlich verändert. Jahrelang spielte er mit dem Bassisten Eddie Calhoun und dem Drummer Kelly Martin, denen er merkwürdigerweise fast nie ein Solo einräumte. Ab Mitte der 1960er-Jahre trat er mit wechselnden Begleitern auf. Als er 1967 den Conga-Spieler José Mangual hinzunahm, veränderte sich sein Spiel etwas; südamerikanische Tanzformen treten in den Mittelpunkt, Garners Spiel wirkt „moderner“, seine Intros klingen oft atonal.

Garner hinterließ mehr als 200 Kompositionen, darunter „Misty“, das von der ASCAP als Nummer 15 unter den 25 am meisten aufgeführten Songs des 20. Jahrhunderts eingestuft wurde. Da er keine Noten schreiben konnte, spielte er zum Beispiel auf Tonband und andere schrieben es auf.

Garner als Mensch

Über Garners Privatleben ist wenig bekannt. Es umgab ihn eine fast geheime private Atmosphäre. Als Jazzpianist machte er die Nacht zum Tage, nach Konzerten besuchte er meistens noch Bars oder Nightclubs. Wurde er dort erkannt, fand er eine Entschuldigung und verließ das Lokal. Wenn er auf der Straße erkannt wurde, was bei seiner Popularität unvermeidbar war, drehte er sich um und ging in die andere Richtung. So extrovertiert er sich manchmal auf dem Podium gab, so schüchtern, ja scheu war er im Privatleben. Garner war auch nicht das, was man unter „gebildet“ versteht. Als ihm Friedrich Gulda, der ihn sehr bewunderte, das Kompliment machte, seine Musik klinge manchmal wie Debussy, antwortete Garner: „Who is that guy?“, woraus zu schließen ist, dass er Debussys Namen nicht kannte, obwohl er schon über dessen „Clair de lune“ improvisiert hatte.

Fred Burkhardt, damals Programm-Manager bei Philips, begleitete Garner einige Jahre lang auf Europareisen. Er berichtet: „Erroll war sehr intelligent, aber etwas weltfremd … Er hatte eine sehr klare Meinung zu den Dingen, über die er sprach, auch wenn sie nichts mit Musik zu tun hatten, besonders bei Diskussionen über Architektur, Malerei oder Skulpturen; hier drang er bis zum Kern der Dinge vor. [...] Es gab niemanden, der auf ihn wartete, wenn er von einer Tournee nach Hause kam. Er war ein einsamer Apostel, der um die Welt reiste in der Überzeugung, es sei seine Mission, den Menschen das mitzuteilen, was er als Geschenk von Gott erhalten hatte.“ Sowohl Burkhardt als auch Mitch Miller und Kelly Martin erzählten, dass die Frauen „verrückt nach Garner“ waren. Mindestens drei länger dauernde Beziehungen sind bekannt, aus einer stammt die 1962 geborene Tochter Kim. Seine letzte Freundin, Rosalyn Noisette – sie lebt heute noch in Los Angeles, in ihren Armen starb Garner – erzählt, Erroll sei sich überhaupt nicht bewusst gewesen, wie sehr ihn die Menschen in aller Welt liebten, nicht einmal, wie sehr sie ihn bewunderten. Er selbst habe so viel Liebe verschenkt, mehr als irgendjemand, dem sie vor oder nach ihm begegnet sei. Am 15. Juni wäre Erroll Garner, einer der Großen des Jazz, 100 Jahre alt geworden.

Ernst Burger ist Autor des Buches „Erroll Garner. Leben und Kunst eines genialen Pianisten“ (Regensburg, ConBrio, 2006).

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