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Intime Kenntnisse durch tief verwurzelte Freundschaft

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Robert Craft, der letzte wichtige Zeitzeuge, erinnert sich an Igor Strawinsky
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Die meisten Informationen über das Leben und Werk von Igor Strawinsky entstammen der Feder seines langjährigen Assistenten und Begleiters Robert Craft. Nach längerem Schweigen reflektiert Robert Craft nun in seinen neuen Veröffentlichungen dreiundzwanzig Jahre zwischen 1948 bis 1971 an der Seite von Igor und Vera Strawinsky. Mußte der 1923 in Kingston im Staate New York geborene Robert Craft zwar schon zu Lebzeiten von Igor Strawinsky viele Anfeindungen erdulden, bleibt Tatsache, daß er, nach dem Tode von Vera Strawinsky im Jahre 1982, nun der letzte wichtige Zeitzeuge zu Igor Strawinsky ist. Rolf Liebermann (*1910) – er ermöglichte in seiner Funktion als Intendant der Hamburgischen Staatsoper, daß Igor Strawinsky im Jahre 1962 den Tag der Feierlichkeiten zu seinem 80. Geburtstag weder in Washington noch in Moskau, sondern in Hamburg beging – bemerkte zum Stellenwert Robert Crafts: „So wie Hermann Scherchen damals Gefallen an mir gefunden hat, so hat Strawinsky Bob, diesen hochintelligenten Jungen, behalten. Bob brachte dann die ganze Bibliothek von Strawinsky in Ordnung, stellte die Autographen in ihre Zeit, ordnete die zahlreichen Kompositionen Strawinskys, übernahm die Briefkorrespondenz, organisierte die Reisen, und vieles mehr. Bob war ein Glücksfall für diese beiden alten Herrschaften, die einsam ihre Zeit in Beverly Hills verbrachten.“1 Der Dirigent und Mäzen Paul Sacher (*1906) – er bewahrt seit 1983 in seiner 1973 gegründeten „Paul-Sacher-Stiftung“ den Nachlaß von Igor Strawinsky auf – ergänzte dazu: „Meine Stiftung hat den Nachlaß von Igor Strawinsky nach seinem Tod von der Familie erworben, und bekanntlich war Robert Craft auch einer der Erben, der mitbestimmen konnte, was mit dem Nachlaß zu geschehen hat. Craft war verschiedentlich hier in Basel und hat sich um die Stiftung und die Arbeiten, die in der Stiftung geleistet werden, gekümmert. Ich bin immer froh, wenn er uns besucht und mit seiner intimen Kenntnis des Lebens von Strawinsky und der Arbeit von Strawinsky Auskünfte erteilen kann, die eigentlich niemand zur Verfügung stellen kann, außer eben er selbst.“2 Milton Babbitt (*1916) – er gilt als einer der einflußreichsten Lehrer Amerikas ebenso wie als einer der großen lebenden Komponisten des Landes – meinte über Robert Craft: „Zunächst einmal ist Bob ein Amerikaner, kennt verständlicherweise deshalb die Gepflogenheiten der Amerikaner und war nicht nur deshalb, sondern auch aus einem anderen Grund wichtig für Igor Strawinsky: Bob war ein ausgezeichneter Dirigent mit einem hervorragenden Gehör – im Gegensatz zu Strawinsky – ein wichtiger Probendirigent und überhaupt kein schlechter Dirigent, wie manche bösen Zungen immer wieder behauptet haben.“3 Robert Craft selbst erklärte seine berufliche Verbundenheit und tiefverwurzelte Freundschaft zu Igor Strawinsky, die in der Musikgeschichte so einmalig ist, wie folgt: „Nur Frau Strawinsky allein verstand unsere Beziehung. Von Anfang an war ihr bewußt, daß ich, oder jemand wie ich, für ihren Mann als musikalische Vertrauensperson, sozusagen als Resonanzboden, wesentlich war.“4 Keinem der zahlreichen Aufenthaltsorte auf Strawinskys Reisen widmet sich Robert Craft in seinem Buch „Stravinsky, Chronicle of a Friend-ship“5 derart ausführlich wie Venedig und München. Angeregt durch ein Gespräch mit der Autorin im März 19946 nahm Robert Craft im Vorwort und im Kapitel „München 1956“, das Igor Strawinsky und München betrifft, wesentliche Ergänzungen und Hinweise gegenüber der im Jahre 1972, unter gleichem Titel (kurz nach dem Tode Igor Strawinskys) erschienenen Erstausgabe7 vor. Beinahe eine Generation lang (noch während seiner Studienzeit an der Juilliard School 1948 bis zum Tode Strawinskys 1971) hatte Robert Craft als Musikschriftsteller, Dirigent, authentischer Interpret und Herausgeber der Musik Strawinskys genauestens Tagebuch über den Privatmann Strawinsky und dessen weltweite Aktivitäten geführt. Seine Chronik reflektiert nicht nur die Begegnungen und Gespräche Strawinskys mit Thomas Stearns Eliot, Wystan Hugh Auden, Evelyn Waugh, Aldous Huxley, John F. Kennedy oder Nikita Chruscht-schow, um nur einige zu nennen; ebenso feinsinnig umschreibt er in ihr die menschliche Ausstrahlung von George Balanchine, Jean Cocteau, Arnold Schönberg, Dimitri Schostakowitsch8, oder auch des damaligen Patriarchen von Venedig und späteren Papstes Johannes XXIII., Angelo Kardinal Roncalli: „10. August 1956. Höflichkeitsbesuch beim Patriarchen Kardinal Roncalli, um ihn um die Erlaubnis zu bitten, das ‚Canticum Sacrum‘ in der Basilika von San Marco aufführen zu dürfen. Zur Mittagsstunde bringt uns seine Gondel zum Einfahrtstunnel des Rio Palazzo. Ein geistlicher Sekretär führt uns durch Gänge und über Treppen. Ebenso wie Igor Strawinsky verbeuge ich mich und küsse den hingehaltenen Ring. Langsam gewöhne ich mich an die scharlachrote Umgebung: an die scharlachrote Kopfbedeckung des Kardinals, an die scharlachrote ‚galero‘ (Bischofsmütze) die auf der Anrichte neben dem Stuhl liegt, an den scharlachroten Seidenumhang, an die scharlachrot-gesäumte Soutane, versehen mit scharlachroten Knöpfen, an die scharlachroten Socken, an die mit scharlachroten Perlen eingefaßten Hausschuhe und an die scharlachrote Schärpe um den Bauch, der den Umfang einer Schwangeren einnimmt, die kurz vor der Entbindung steht. Der Kardinal spricht fließend französisch und redet weltgewandt, was mich überrascht, da ich dies von einem solchen in der Zurückgezogenheit lebenden Manne nicht erwartet hatte. Innerhalb des Gesprächs springen wir von seinen Jahren als Nuncio in Sofia und Istanbul hinüber zu seiner Feststellung, daß ‚Orientalisten von Grund auf religiöser veranlagt sind als wir Katholiken.‘ Er (...) bemerkt, daß ‚wenn die Dummheit immer eigensinniger wird, die Intelligenz an Flexibilität zunehmen sollte‘ und münzt dies eindeutig auf Rom. Als wir schließlich (...) auf den eigentlichen Grund unseres Besuches zu sprechen kommen, fragt der Kardinal Igor Strawinsky, weshalb dieser einen Teil des ‚Salomonliedes‘ für die Aufführung in einer christlichen Kirche gewählt hat. Ich versuche Strawinsky zur Hilfe zu eilen, indem ich auf die ‚heiligen Symphonien’ des Alten Testamentes, die in San Marco abgehalten werden, zu sprechen komme. Während ich spreche, spielt seine Heilige Eminenz mit dem goldenen Kreuz, das über seinem Bauch baumelt und mich beinahe aus meiner Konzentration wirft. Anscheinend begnügte er sich mit dieser Argumentation, da er Anstalten macht, seinen massigen Körper aus dem Stuhl zu hieven – was mich dabei wieder in Erstaunen versetzt, ist die Tatsache, daß diese ‚basso-buffo‘-Figur, mit all ihrem tropischen Gefieder, sich tatsächlich bewegt – und stehend uns und dem bevorstehenden Konzert seinen Segen gewährt. Wir gehen, wieder mit Verbeugung und Ringkuß, rückwärts (al rovescio) aus dem Raum. Bevor wir den Palast verlassen, begleitet uns der Kardinal noch zum Thronsaal – in ihm fanden die repräsentativen Festessen der Dogen statt –, von wo aus er uns einen unerwarteten Blick auf San Marcos einfache Ziegel-Rückansicht offeriert. (...)“9 Erinnern wir uns auch an Igor Strawinsky und die Stadt München, die er „mehr wegen ihrer Orlando di Lasso-, als ihrer Richard Strauss-Verbundenheit liebte“.10 In den Jahren 1951, 1956 und 1957 folgte er als Dirigent eigener Werke den Einladungen Karl Amadeus Hartmanns zu Auftritten in der Musica Viva. Wie aus seinem Brief an Sohn Theodore zu entnehmen ist, war er noch als Siebzigjähriger auf seine Auftritte als Dirigent finanziell angewiesen: „Ich lebe bescheiden und verhältnismäßig bequem, und das nur, weil ich noch dirigiere (...) Meine Verdienste als Komponist reichen nicht aus, um davon zu leben.“11, was auch Robert Craft nicht vorenthält: „Geld war eine ernste Überlegung auf seinen Konzerttourneen in den 50er Jahren.“12 Crafts faszinierend und umfassend gezeichnetes Portrait von Komponist, Ehemann und Kosmopolit Igor Strawinsky erlebt besonders im Kapitel „München 1956“, als der 74jährige erstmalig mit beunruhigenden gesundheitlichen Problemen konfrontiert wurde, eine besondere Dramaturgie13: „4. Oktober 1956. In München zur Mittagszeit. (...) Karl Amadeus Hartmann fährt uns ins Hotel Vier Jahreszeiten. Igor Strawinskys Taubheits- und Gleichgewichtsgefühl haben sich verschlechtert; er klagt über grauenhafte Kopfschmerzen. Dieser Hypochonder, der sonst, wenn alles in Ordnung ist, seine Temperatur und seinen Puls mehrmals am Tage mißt, weigert sich jetzt jedoch immer noch einen Arzt zu sehen. Ich bestehe darauf, daß Hartmann auf jeden Fall einen herbeiruft und um 5 Uhr untersucht ihn ein gewisser Herr Professor Diehl, erzählt mir, daß seine Reflexe schlecht sind, daß er einen Schlaganfall erlitten hat und daß die Möglichkeit für einen ‚massiven‘ Anfall in den nächsten 24 Stunden besteht. Diehl, am Abend wiederkehrend, sagt, daß der Blutdruck sich noch bei 200 befindet. 6. Oktober. Der Blutdruck ist gefallen, aber Igor Strawinskys Mund hängt an der linken Seite nach unten und er ist langsam und schwach. Hartmann sagt das Konzert ab.(...) 10. Oktober. Was schon vor sechs Tagen hätte passieren sollen: Igor Strawinsky kommt ins Rot-Kreuz-Krankenhaus in der Nymphenburgerstraße. Diehl spricht nun offen mit uns über die Thrombose und die Möglichkeit ihres Wiederauftretens. Wir besuchen Igor Strawinsky jeden Tag.(...) 11. Oktober. ‚Was ist mit mir geschehen?‘ fragt mich Igor Strawinsky, als ich heute früh sein Zimmer betrete. Er hat immer noch dieses bleiche Gesicht, ist immer noch langsam, abwesend und leicht reizbar. ‚Eine Seite fühlt sich so an, als ob sie sich gegenüber der anderen nicht auf der selben Höhe befindet. Ich versuche einen klaren Gedanken zu fassen, aber es ist für mich eine Anstrengung zu sprechen.‘ Tatsächlich redet er, beschuldigt jedoch dabei sich selbst und beklagt den Zustand seines Kopfes. Daß er nicht in der Lage ist, eine Orchesterprobe zu leiten, geschweige denn ein Konzert, ist offensichtlich, trotzdem hat Diehl ihm bereits die Erlaubnis gegeben, in Rom zu dirigieren.(...)“14 Im Anschluß an seine Genesung komponierte Igor Strawinsky den größten Teil der Ballettmusik „Agon“, die unter der Leitung von Robert Craft am 17. Oktober 1957 in Paris ihre Weltpremiere erlebte. Weitere Uraufführungen unter Robert Craft waren „The Flood“, „Abraham und Isaak“, „Variations“ und „Requiem Canticles“. Craft, der nicht nur die berühmtesten Orchester der Welt dirigiert hat, stellte in den Vereinigten Staaten als erster Amerikaner die beide Opern „Wozzeck“ und „Lulu“ von Alban Berg vor und spielte das Gesamtwerk von Anton Webern und Arnold Schönberg ein. Geehrt mit dem „Edison Preis“ und zweimal dem „Grand Prix du Disques“ arbeitet Robert Craft derzeit an einem Strawinsky-Zyklus von fünfzehn CDs, wobei mehr als die Hälfte mit dem Londoner Symphonieorchester bereits eingespielt worden sind. 1 Rolf Liebermann im Gespräch mit der Autorin am 10. September 1993, Florenz. 2 Paul Sacher im Gespräch mit der Autorin am 10. Februar 1995, Basel. 3 Milton Babbitt im Gespräch mit der Autorin am 27. Oktober 1994 und 26. November 1996, New York. 4 Robert Craft, Present Perspectives. In: Booklet zur CD 1996, Koch International LP (Übersetzung: Barbara Haas). 5 Robert Craft, Stravinsky, Chronicle of a Friendship. Revised and Expanded Edition. Nashville, London 1994. 6 Siehe Fußnote 13. 7 Robert Craft, Stravinsky, Chronicle of a Friendship 1948–1971, New York 1972. 8 Schade nur, daß die auf den 570 Seiten vorgestellten Personen, die der Leser bestimmt nicht alle kennen kann, im Personenregister nicht vorgestellt werden. Möglicherweise könnte dies in einer deutschsprachigen Ausgabe berücksichtigt werden. 9 Robert Craft, Stravinsky, Chronicle of a Friendship. Revised and Expanded Edition. Nashville, London 1994, S. 136–139. (Übersetzung: Barbara Haas). 10 Robert Craft im Gespräch mit der Autorin am 15. März 1994, Boca Raton. 11 Brief Igor Strawinskys an Sohn Theodore vom 10. Oktober 1952. (Übersetzung: Barbara Haas). In: Stravinsky: Glimpses of a Life, New York 1993. 12 Robert Craft im Gespräch mit der Autorin am 15. März 1994, Boca Raton. 13 Ausführlich in: Barbara Haas, Die Musica Viva unter dem Gründer und Leiter Karl 13 Ausführlich in: Barbara Haas, Die Musica Viva unter dem Gründer und Leiter Karl Amadeus Hartmann. Eine Chronik in Erinnerungen und Dokumenten. Eichstätt 1995. 14 Robert Craft, Stravinsky, Chronicle of a Friendship. Revised and Expanded Edition. Nashville, London 1994, S. 147–148. (Übersetzung: Barbara Haas).

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