Einmal Basel–Baku und zurück. Eine Konzertreise in die Hauptstadt von Aserbaidschan an die Grenze Europas (andere sagen: an den Rand Asiens) gehört auch für die Musiker der Basel Sinfonietta nicht zum beruflichen Alltag – obwohl sich das als Verein organisierte und damit wesentlich durch die Musiker bestimmte Profi-Orchester durchaus gerne ungewöhnliche Programme und Projekte verordnet. Aserbaidschan aber ist sehr weit weg – nicht nur in Kilometern. Wer kennt schon dieses Land zwischen Georgien, Russland, Armenien und Iran? Das mit seinen Ölfeldern am und im Kaspischen Meer so reich sein könnte – aber so viel Armut zeigt? Für Europäer ist Aserbaidschan ein fremdes Land.
Fremd wirkt auch die Hauptstadt Baku – schon bei der Busfahrt über eine überdimensionierte Autobahn vom Flughafen ins Zentrum. Ärmliche eingeschossige Behausungen in der Peripherie gehen langsam über in neuere und höhere Gebäude, um schließlich in edlen Hausfassaden an der Bucht des Kaspischen Meers zu münden mit teuren Marken-Geschäften, in denen die wenigsten Einwohner Bakus einkaufen können. Fremd wirken auch die zahllosen Hochhausgerippe, die meist blockweise in den Himmel ragen. Man weiß nicht recht: Wird hier gerade neu gebaut, wird abgerissen, oder ging einfach das Geld aus, um fertigzubauen? Fast wie ein Wahrzeichen der so vielgesichtigen Stadt wirken die-se Bauruinen.
Ein bisschen fremd scheint die Stadt, scheint das Land mit seinen Widersprüchen auch den eigenen Bewohnern zu sein. Dieses Land Aserbaidschan mit seiner großen kulturellen Tradition, mit seinem Reichtum an Rohstoffen, mit seinen vielfältigen Klimazonen und seiner vielseitigen Natur – erst seit 1991 wieder unabhängig nach Jahrzehnten Dominanz durch die Sowjetunion – befindet sich noch im Umbau und versucht, seine eigene Identität (wieder) zu finden. Umso verdienstvoller ist es, wenn ein kleines europäisches Land (die Schweiz) und hier insbesondere ein einzelner Akteur (Jurriaan Cooiman) mit dem Festival „Culturescapes“ versucht, kulturelle Eigenheiten und Identitäten aufzuspüren und darzustellen. Seit 2003 widmet der gebürtige Holländer, der in der Schweiz „hängengeblieben“ ist, sein Festival jedes Jahr einem anderen östlichen Land. Dabei geht es um Länder, so Cooiman, „die aufgrund der veränderten europäischen Landkarte ein Interesse haben, sich neu zu präsentieren. Das tun sie sehr gerne über die Kultur.“
Angefangen hat es mit Georgien (und einem Etat von 100.000 Franken), danach kamen die Ukraine, Armenien, Estland, Rumänien und die Türkei, eine expandierende Struktur, einige (wenige) Mitarbeiter und in diesem Jahr die Gründung einer Stiftung, die nun Träger von „Culturescapes“ ist. Mit all seinen Projekten trägt Cooiman dazu bei, die Kulturen der jeweiligen Länder in der Schweiz bekannter zu machen. Gleichzeitig aber hält er dem Land selbst einen Spiegel vor. Er präsentiert den Menschen ihre eigene kulturelle Identität aus der Sicht des Außenstehenden, des Mittel-Europäers. Cooiman weiß selbst am besten, dass die Wirkungskraft eines solchen jeweils einmaligen Events – wenn es auch über Wochen dauert und sich inzwischen über die ganze Schweiz ausdehnt – begrenzt ist. Aber es geht ihm gar nicht nur darum, dass ein bestimmtes Land seinen Bekanntheitsgrad steigert. „Es geht mir darum, dass man sich dem Fremden gegenüber anders verhält. Ich erhoffe mir eine zunehmende Offenheit der Menschen“, so Cooiman.
Das Land Aserbaidschan jedenfalls – oder vielmehr die alles andere als demokratisch gewählte Regierung – hat sich gerne auf diese kulturelle Partnerschaft eingelassen und trägt, wie es bei „Culturescapes“ üblich ist, die Hälfte des Etats. Der Staatspräsident Ilham Aliyev besuchte die Eidgenossen höchstpersönlich zur Eröffnung des Festivals. Ein Staatspräsident, der – nach dem Tod seines in Baku noch immer omnipräsenten Vaters Heydar Aliyev – dessen Amt übernahm und gerade daran arbeitet, lästige Verfassungsbeschränkungen hinsichtlich einer zeitlich begrenzten Amtszeit auszuhebeln. Ein höchst zweifelhaftes Pressegespräch mit dem stellvertretenden Kulturminister des Landes, der geradezu modellhaft einer Kiste mit der Aufschrift „Apparatschiks“ entstiegen zu sein scheint, verstärkt den Eindruck der Autokratie. Angesichts solcher Machtstrukturen liegt die Frage nahe, inwieweit es einem Programmmacher aus der fernen Schweiz gelingen kann, auch solche Kultur aufzuspüren und zu zeigen, die eben nicht von oben verordnet wurde. (Immerhin soll das Schwerpunktland in 2010 China heißen …)
Er mache selbst die programmatischen Vorschläge, sagt Cooiman. Er reist vielfach durch das Land, knüpft Kontakte, entdeckt und konzipiert. Dass die Kooperation mit Herrschaftssystemen dieser Art zum Balance-Akt werden kann, zeigt die Publikation „Culturescapes Aserbaidschan“, die parallel zum Festival entstanden ist. Hier wird informativ, aber durchaus auch kritisch über Geschichte, Politik und Kultur des Landes geschrieben. Deshalb hat Cooiman – nach unangenehmen zensorischen Erfahrungen mit der Türkei im letzten Jahr – die absolute Unabhängigkeit in Sachen Publikation mit den aserbaidschanischen Partnern vertraglich vereinbart. Über das Ergebnis ist der Stellvertretende Kulturminister alles andere als erfreut. Aber Cooiman lernt in jedem Jahr dazu.
Zurück nach Baku. Die Basel Sinfonietta ist in diesem Jahr Kooperationspartner von „Culturescapes“. In Basel und Zürich wurde ein Konzert gegeben mit „Musica luminosa per orchestra“ von Rudolf Kelterborn, mit einer Uraufführung des Aserbaidschaners Faradsch Garayev und der „Achten“ von Dvorák.
Ungewöhnlich an diesem Programm ist dabei lediglich die Dvorák-Sinfonie. Solche Klassiker spielt das Orchester nur selten, wie Thomas Nidecker, einer der Mitbegründer des Orchesters, berichtet. „Aber wenn Dvorák, dann richtig, mit Stefan Asbury als Dirigent, der eine neue Idee reinbringt, der das ganz anders macht, als es bisher gemacht wurde. In Kombination mit der Neuen Musik ist das dann sehr spannend.“
Seit vielen Jahren behauptet sich das Orchester, das sich aus einem Stamm von circa 140 Musikern zusammensetzt, gegenüber den zahlreichen Kulturangeboten der Stadt Basel. Sechs Programme bietet es seinem treuen Abonnentenstamm jährlich – und die Zahl der Abonnenten konnte gerade um 14 Prozent erhöht werden, wie Geschäftsführer Harald Schneider stolz erzählt. Das ist bei den Programmen, die wenig mit herkömmlichen Vorstellungen und viel mit Neuem, Unbekanntem zu tun haben, nicht selbstverständlich. Nicht selten stehen bei der Programmkonzeption die Interessen der Musiker und des Geschäftsführers (der das Orchester immerhin „verkaufen“ muss) einander gegenüber. Immerhin speist sich der Etat des Ensembles nur zu einem Viertel aus öffentlichen Zuschüssen. Alles andere muss über Stiftungen, Sponsoren und Eintrittseinnahmen finanziert werden. Offenbar ein Erfolgsmodell: Im Jahr 2010 feiert die Basel Sinfonietta ihren 30. Geburtstag.
Nach Baku reist das Orchester mit einem leicht veränderten Programm. Neu im Gepäck ist das Cellokonzert der Aserbaidschanischen Komponistin Frangis Ali-Sade mit dem Solisten Julius Berger. Am Pult steht – wie häufig bei der Sinfonietta – Stefan Asbury. Mit ihm arbeiten die Musiker sehr gern und engagieren ihn immer wieder für ihre Projekte. Seine „Tauglichkeit“ erweist Asbury nicht nur als engagierter und präziser Orchesterleiter, sondern auch in seinem Umgang mit dem Publikum, das sich europäischen Konzertgewohnheiten nicht anpassen will. Da klingeln Handys, Gespräche werden auch in den leisesten Stellen gerne mal angenommen, es herrscht eine durchgehende Unruhe im Saal und natürlich wird zwischen den Sätzen geklatscht. Orchester und Dirigent gehen damit souverän um – und der Schlussapplaus nach einer äußerst spritzigen und begeisternden Dvorák-Sinfonie belohnt den Einsatz: Große Begeisterung, Bravo-Rufe, Standing Ovations kommen aus dem Publikum. Wie sich dieses zusammensetzt, vermag allerdings niemand genau zu bestimmen. Die Schweizer Botschaft hatte ein Kartenkontingent, das Orchester erhielt Karten für seinen „Reisekader“. Ob es einen freien Verkauf gab, ist nicht bekannt. Vermutlich nicht, und das ist schade, weil einzelne Plätze in der 1909 erbauten Philharmonie frei blieben. Ein solches Konzerterlebnis aber dürfte in Baku ein Highlight sein, das sobald nicht wieder zu erwarten ist. Wer es erlebt hat, wird die so ferne Schweiz in „musikalischer“ Erinnerung behalten. Und das ist es schließlich, was Jurriaan Cooiman mit „Culturescapes“ erreichen will.