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Musiktheater im Zeitalter der Kommunikation

Untertitel
Michael Hirschs Oper „Das stille Zimmer“ auf Texte von Ernst Herbeck in Bielefeld
Publikationsdatum
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Der „Discours de la Méthode“ ist im gleichen Jahr 1637 erschienen, in dem einige venezianische Bürger das Musiktheater als Geschäftszweig entdeckten und das erste öffentliche Opernhaus gründeten. In den bald 300 Jahren seitdem haben die Wissenschaften das selbstdenkende Ich kultiviert, während die Musik für das selbstfühlende Ich zum Kommunikationsmittel schlechthin wurde. Und was sollte sie nicht alles kommunizieren: Affekte, Ideen, Empfindungen, oder gar die „subjektive Innerlichkeit“ (Hegel) selbst. Einig sind die ästhetischen Positionen darüber, dass es bei Musik um Kommunikation geht. Das spricht aus Beethovens Wunsch, seine Messe möge von Herzen zu Herzen gehen und aus Lachenmanns Ziel: „Kommunikation verweigern und zugleich erzwingen“.

„Ich kommuniziere, also bin ich.“ So lautetet die neueste, oder, wie es im Computerzeitalter auch heißt, die aktualisierte Version des „Cogito ergo sum“. Das „Ich denke, also bin ich“ des René Descartes legte den Grund für den systematischen Selbstzweifel der Wissenschaften und gilt als Beginn eines Zeitalters des Subjektivismus. Jene andere Formulierung aber, mit der ein Mobilfunkanbieter auf Plakatwänden wirbt, kündet vom Ende das Subjekts, vom Aufgehen des Einzelnen in der Masse, von der Auflösung aller Diskurse im globalen Rauschen. Der „Discours de la Méthode“ ist im gleichen Jahr 1637 erschienen, in dem einige venezianische Bürger das Musiktheater als Geschäftszweig entdeckten und das erste öffentliche Opernhaus gründeten. In den bald 300 Jahren seitdem haben die Wissenschaften das selbstdenkende Ich kultiviert, während die Musik für das selbstfühlende Ich zum Kommunikationsmittel schlechthin wurde. Und was sollte sie nicht alles kommunizieren: Affekte, Ideen, Empfindungen, oder gar die „subjektive Innerlichkeit“ (Hegel) selbst. Einig sind die ästhetischen Positionen darüber, dass es bei Musik um Kommunikation geht. Das spricht aus Beethovens Wunsch, seine Messe möge von Herzen zu Herzen gehen und aus Lachenmanns Ziel: „Kommunikation verweigern und zugleich erzwingen“. Nachdem die cartesianische Philosophie zum Modell der Erkenntnis für das selbstdenkende Ich geworden war, wurde Musik zum Modell seiner Kommunikation: höchst differenziert sich selbst äußernd und zielend auf eine Masse oder gar die ganze Menschheit. Das Zeitalter des Subjektivismus aber neigt sich zum Ende; das selbstdenkende wird durch das kommunizierende Ich ersetzt, und das Leitbild des reflektierenden Wissenschaftlers durch das des Kommunikators.

Szene aus "Das stille Zimmer". Foto: Matthias Stutte

Und für zwei Merkmale dieses Epochenwechsels gibt es Modelle in der Musik: Zum einen ist hier die mediale Vervielfachung desselben auf unterschiedlich codierten Kanälen schon seit langem bekannt; seit nämlich Übereinkunft darüber besteht, dass Schallwellen und gedruckte Noten, – heute auch in eine CD eingebrannte Bits –, ein und dieselbe Botschaft vermitteln können. Und zum anderen liefert die Musik das „business model“ unseres Kommunikationszeitalters: Denn die alte Korrelation zwischen der Knappheit und dem Preis von Gütern ist ja nicht erst durch Microsoft verdreht worden, sondern schon die venezianische Oper des 17. Jahrhunderts wurde immer wertvoller, je öfter und an je mehr Orten sie gespielt wurde.

Nichtseiend, im Sinne der Mobilfunkwerbung, ist die Dichtung Ernst Herbecks, nach der Michael Hirsch ein Musiktheater für Bielefeld geschrieben hat. Denn Herbecks Motiv fürs Schreiben war nicht zu kommunizieren, sondern einer therapeutischen Vorschrift zu folgen. Herbeck verlebte eine reizlose Kindheit, deren eigene Schilderung auch in Hirschs Musiktheater vorgetragen wird. Schon als Kind war er schweigsam: Seine Sprechfähigkeit war wegen einer angeborenen Kiefer-Gaumenspalte eingeschränkt, und als Grundschüler wurde er deshalb mehrfach operiert. Wegen schizophrener Wahnvorstellungen kam er als 20-Jähriger in psychiatrische Behandlung. Etwas später wurde er entmündigt und in eine Heil- und Pflegeanstalt eingewiesen, wo er den größten Teil seines Lebens verbracht hat. Er, der nie aus freien Stücken geschrieben hat, sondern zunächst nur auf ausdrückliche Aufforderung seines Psychiaters Leo Navratil, ist eine literarische Berühmtheit geworden, seit Navratil 1966 einige Gedichte unter dem Pseudonym „Alexander“ veröffentliche. Mehrfach wurden Texte von ihm vertont, und im vergangenen Jahr nahm die Wochenzeitung „Die Zeit“ eine Anthologie mit Gedichten Herbecks in ihre Reihe „Das Jahrhundertbuch“ auf. „Die Texte“, sagt Hirsch „haben eine Mischung aus einer ganz tiefen Trauer, einer großen Ironie, einem Humor, einer Tiefe und einer Naivität, die vieles in einem berührt, was man kennt, was man aber gar nie so formulieren könnte. Das hängt sicherlich damit zusammen, dass bei Menschen mit dieser schizophrenen Psychose manchmal bestimmte Kontrollinstanzen, die wir als Zensur in unserem Hirn haben, aussetzen, und dadurch kommen so tiefenpsychologische Dinge heraus, die uns alle betreffen und die bei uns allen ansprechen, die wir aber nie so formulieren würden.“

Michael Hirschs Musiktheater inszeniert die Nicht-Kommunikation: „Das stille Zimmer“, von dem der Titel kündet, ist ein enger, nur mit Tisch und zwei Stühlen möblierter Winkel, in dem zwei Männer sich gegenübersitzen. Im Prolog sprechen sie den gleichen Text, aber mit verschiedenen Weglassungen, später reden sie von Unterschiedlichem, buchstäblich aneinander vorbei, und am Ende schweigen sie nur noch. Wo kein Dichter-Ich sein eigenes Inneres äußert, muss die Musik nicht die Worte im anderen Medium „interpretieren“. Und das versucht Hirsch auch gar nicht, sondern er führt Zuschauer und Zuhörer durch das stille Zimmer in die fantastische Innenwelt einer gespaltenen Persönlichkeit, die sich selbst fremd ist. Und dieser zweite Eingang in das Stück ist auch musikalisch gezeichnet: Nachdem die erste Szene schon angelaufen ist, tönt vom Band ein sich einspielendes Orchester. Und der Einsatz des wirklichen Orchesters danach ist wie ein neuer Anfang.

Für „Das stille Zimmer“ hat Hirsch zunächst die Texte ausgewählt und ihre Reihenfolge festgelegt. Erst in einem zweiten Schritt wurden die Worte auf die fünf Männer und die fünf Frauen verteilt und schließlich wurden die Personen durch Worte aus Herbecks Texten benannt. Die Frauen, sie heißen „das stille Kind“, „die Braut“, „die Sphinx“, „der Engel“ und „die Mutter“, sind alle weiß gekleidet, die Männer sind alle schwarz. Die Männer sprechen, die Frauen singen, und die Männer haben eher die ernsten, existenzialistischen Texte vom Typ: „Ein schöner Has’ ist meist der einzelne“, während die Frauen von Natur, von Wind, Wasser und Wellen singen. Der Geschlechterkontrast bildet, so Hirsch, das distanzierte Verhältnis Herbecks zu Frauen nach, die der zeitlebens in Männeranstalten Internierte nur als Angst- und Sehnsuchtsfiguren erlebte. Auf der Bühne agieren Sprecher und Sängerinnen oft gleichzeitig, doch nebeneinander her, wie in zwei parallelen Welten. Die fünf Männer, so Hirsch, seien lauter kleine Dichter: „der Partzifall“ (sic!), „der Bindgänger“, „der Pfandfinder“, „der mit der Wunde“ und „der Zwergk“. Jeder trägt ein Spielzeug-Attribut mit sich: eine Lupe, eine Weltkugel, eine rollende Gans, die mit Flügeln wackelt. Die Ausstattung, für die Sandra Mehrer verantwortlich ist, wurde spielerisch erarbeitet: der Fundus geplündert, bis die Probebühne wie ein unaufgeräumtes Spielzimmer ausgesehen habe; erst dann habe man begonnen zu reduzieren.

Eine richtige „Oper“ ist „Das stille Zimmer“ nicht, und das nicht nur, weil die Textvorlage anti-dramatisch ist. Die fünf Frauen singen über weite Strecken im Chor; expressive Soli sind selten. Und auch die Bielefelder Philharmoniker unter Leitung von Geoffrey Moull können als Orchester mit dieser Partitur nicht brillieren; es gibt lange kammermusikalische Partien mit nur einem oder zwei Instrumenten, und von den Tutti sind einige gereihte Orchesterschläge, andere grafisch nur ungefähr notiert. Die Stärke von Michael Hirsch liegt im klangspielerischen Detail, in der feinen Kommentierung von gesprochenen Worten durch Geräusche, und vor allem: in der szenischen Aktion. Schon seit langem arbeitet der 40-Jährige als Schauspieler und Sprecher im experimentellen Musiktheater. Außerdem hat er kompositorische Erfahrung mit Kammermusiken, experimentellen Sprachwerken und Tonbandkompositionen. Vor allem die Zusammenarbeit mit Dieter Schnebel, Josef Anton Riedel und Achim Freyer haben sein Werk geprägt. Das Stadttheater Bielefeld beweist einigen Mut mit der aus drei bis vier Produktionen pro Spielzeit bestehenden Reihe „Neues Musiktheater“, in der auch schon Stücke von Daniel Ott und Carola Bauckholt produziert wurden; Unterstützung dafür kommt aus der Schweiz: durch den im vorigen Jahr verstorbenen Mäzen Paul Sacher und die Paul-Sacher-Stiftung. Den Kompositionsauftrag an Michael Hirsch hat die Stadt Bielefeld vergeben. Gerne möchte Hirsch nach dem gelungenen Erstling eine weitere Oper schreiben, dann aber „mit mehr vorgegebener Handlung arbeiten, mit mehr dramatischem Stoff“.

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