Heiner Klug: Musizieren zwischen Virtuosität und Virtualität. Praxis, Vermittlung und Theorie des Klavierspiels in der Medienperspektive. Die Blaue Eule, Essen 2001, ISBN 3-89206-049-5.
Heiner Klug: Musizieren zwischen Virtuosität und Virtualität. Praxis, Vermittlung und Theorie des Klavierspiels in der Medienperspektive. Die Blaue Eule, Essen 2001, ISBN 3-89206-049-5.Musiklernen bedarf grundsätzlich multimedialer Vermittlung ebenso essenziell, wie der Vorgang des Musizierens selbst multisensural, komplex und ganzheitlich strukturiert ist. Dabei gebührt dem Gehör und damit dem auditiven Medienaspekt die Priorität. Mediale Interaktivität und Multimedialität bieten hierzu die technischen Voraussetzungen.“ (Resümee, S. 213)Nach einer aktuellen Umfrage gehört „Musik“ zu den unbeliebtesten Schulfächern. Musikpädagogen warnen vor dem Einfluss elektronischer Medien im musikalischen Alltag – mit der „Tendenz zum Schnuppern, zum raschen Fast-Food-Erfolg“. Der Deutsche Musikrat sieht gar „die musikalische Bildung im Ganzen gefährdet“ (S. 9–11).
Ein düsteres Bild! Doch Heiner Klug stimmt nicht einfach in den apokalyptischen Klagegesang ein. Stattdessen knüpft er ein ungemein zukunftsträchtiges, vieldimensionales und interdisziplinäres Netz, das die ambivalente Rolle des Klaviers im Spannungsfeld alter und neuer Medien einfängt. Von grundsätzlicher Bedeutung reichen seine Ausführungen über das Klavier, ja das „Fach Musik“, hinaus.
Ein ausführliches und fesselndes Kapitel gehört der Geschichte des Klavierspiels. Klug beginnt im 18. Jahrhundert, einer Zeit ganzheitlicher und umfassender musikalischer Instrumental-Ausbildung: einer „Personalunion von schaffendem und ausübendem Künstler“ (S. 17), ausgebildet in einem sehr engen und zeitaufwändigen Lehrer-Schüler-Verhältnis.
Doch nach und nach zerfällt diese Einheit – in einem Prozess zunehmender Spezialisierung, und der Abtrennung: von Komponist und Interpret, von freier Improvisation und fest notierter Komposition, von Gestaltung und Technik, von wissenschaftlicher Rationalisierung und einem „Rückzug in die Irrationalität“ (S. 83), von musikalischem Verständnis und bühnenwirksamer Virtuosität, von U- und E-Musik, von Hören und Spielen.
In diesem Prozess der Polarisierung und Spezifizierung spielen Medien eine wesentliche Rolle. Klug analysiert die zwiespältigen Auswirkungen des Buchdrucks auf die Musik: einerseits als Garant einer exakten Überlieferung und zunehmenden Verbreitung, andererseits aber auch als Mitverursacher der zuvor skizzierten Defizite und Vereinseitigungen. An der „Dominanz des Auges gegenüber dem Ohr“ (S. 181) krankt noch heute manches Musikstudium. Visuell eingeschliffenes und effektvoll dargebrachtes Literaturspiel steht dann in keinem Verhältnis zu den eher dürftigen Leistungen in Gehörbildung und freier Improvisation.
Bei aller akribischer und erschöpfender Detailarbeit verliert Heiner Klug niemals den Blick für das Ganze, den Zusammenhang. Zudem fasziniert seine ausgeprägte Fähigkeit, dialektisch und komplex zu denken, was jeglichen Anflug von binärem „Schwarz-Weiß“ im Keim erstickt. Dabei hebt er niemals den pädagogischen Zeigefinger; er beurteilt ohne zu verurteilen.
Im zweiten Teil des Buches beschreibt der Autor denkbare Ansätze, die oben genannten, historisch gewachsenen Gräben zu überbrücken, Gegensätze multimedial aufzuheben. Die hoch entwickelte Mikroelektronik und Computer-Technologie ebnen neue Wege. Hier die wichtigsten:
• Verschmelzung von „produktiven, reproduktiven und konsumierenden Sphären des Musizierens“ (S. 213),
• autonomer beziehungsweise autodidaktischer Umgang mit Musik,
• zeitliche und räumliche Präsenz beziehunsgweise Verfügbarkeit von Musik,
• exakte und verlässliche Speicherung und Reproduktion von Musik,
• interaktives Agieren und Reagieren,
• multisensurale Verknüpfung insbesondere von Auge und Ohr,
• Ausweitung und Relativierung der Begriffe „Instrument“ und „Instrumentalspiel“.
Vielleicht überschätzt Klug ein wenig die Tragfähigkeit multimedialer Vermittlung und Auseinandersetzung, aber in diese Richtung muss weiter gedacht werden, wenn die Musikpädagogik die vom Deutschen Musikrat diagnostizierte Krise im Medienzeitalter bewältigen und noch kaum angezapftes Potenzial für ihre Zwecke nutzen will. Vieles hängt zudem davon ab, ob und inwieweit Musik- und Instrumentalpädagogik ihre vielfach traditionshaftende und hermeneutische Grundhaltung aufgeben, die sich nicht zuletzt in einer nur „rudimentären Aufarbeitung der medientechnologischen Entwicklung“ (S. 123) widerspiegelt.
Kurzum: ein Buch von hoher wissenschaftlicher und fachlicher Qualifikation, sprachlicher Kompetenz, interdisziplinärer Weite und hoher Relevanz – auch Nicht-Pianisten sehr zu empfehlen!