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Seit der Antike weiß man - oder wissen die Weisen - um die persönlichkeitsbildende Kraft der Musik. Professor Hans Günther Bastian zitierte als Einführung in seine Kongreß-Arbeitsgruppe zum Thema „Intensive Musikerziehung und ihr Einfluß auf die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern“ eine eindrucksvolle Auswahl einschlägiger Zeugen zu den heute so genannten „Transfer“-Effekten von Musikerziehung: ein Querschnitt durch die abendländische Geistesgeschichte von Sokrates und Platon, über Luther, Hegel und Schopenhauer bis hin zu zeitgenössischen Politikern.
Richard von Weizsäcker und Roman Herzog mag man als Bundespräsidenten neben Format auch Bekanntheit zugestehen - was aber gilt ihr Wort bei jenen, die heute mit ihrer Tagespolitik auch Musikschulpolitik betreiben? Sie alle sind von einem anderen geistesgeschichtlichen Zug des Abendlandes geprägt, der heute in politischen Zweifelsfällen in der Regel die Entscheidungen diktiert, vom Utilitarismus, jenem Prinzip des Abwägens eines Nutzen, für dessen Eintreten die dafür aufzubringenden Kosten gegenzurechnen sind. Und jener Nutzen, den die Musik für den Menschen nach Aussage aller europäischen Geistesgrößen - und eines Heeres von Musikpädagogen - haben soll, jener Nutzen für den Menschen und die Gesellschaft ist nirgends festzumachen außer in eben jenen immer wiederholten Behauptungen, die - so muß man sich dann sagen lassen - als subjektive Erfahrungen nicht dadurch wahrer werden, daß man sie immer wiederholt.
Theorie und Praxis
Seit kurzem können wir Musikpädagogen uns in jenem Diskurs aber auf ein weiteres strategisches Instrument der abendländischen Mentalität stützen, das - so sollte man meinen - nahezu unschlagbare Beweiskraft hat: den wissenschaftlichen Nachweis. Versuchen wir´s mal in der Praxis, denn wir haben ihn, den Nachweis, seit Professor Bastian, bekannt und prädestiniert durch zahlreiche Studien seines Paderborner Instituts für Begabungsforschung (u.a. für „Jugend musiziert“), die Ergebnisse seiner Berliner Langzeitstudie zum Thema ausgewertet und veröffentlicht hat. Eigentlich konsequent, daß der VdM ihn als Referenten hierzu auf den Kongreß eingeladen hat. Sollten doch solche Ergebnisse nicht nur Konsequenzen auf die öffentliche Akzeptanz von Musikschulen schlechthin haben, sondern - nimmt man es ernst - auch auf das Selbstverständnis von Musikpädagogen. Kein Wunder also, daß die Arbeitsgruppe keinen Mangel an Teilnehmern hatte, die sich das „schon-immer-Gewußte“ en detail wissenschaftlich bestätigen ließen. (Da die Ergebnisse in der Juli-Ausgabe des vom Deutschen Musikrat herausgegebenen „Musikforum“ abgedruckt werden, ist hier eine detaillierte Nacherzählung unnötig.)
Bastian hatte sechs Jahre lang nach definierten Kriterien 180 Berliner Grundschulkinder beobachtet, von denen die Versuchsgruppen mehr Musikunterricht erhielten, auch ein Instrument lernten und gemeinsam musizierten, die Kontrollgruppen jedoch nicht - eine methodisch sehr differenzierte Langzeitstudie über eine entwicklungspsychologisch ausgesprochen zentrale Phase der kindlichen Persönlichkeitsbildung. Die Ergebnisse waren trotz vieler Erwartungen dennoch überraschend: Die Intelligenzentwicklung etwa wurde signifikant und erheblich durch den intensivierten Musikunterricht, insbesondere nach Einsetzen des aktiven Musizierens, gesteigert. Gleiches gilt für die soziale Kompetenz und das sozialintegrative Verhalten der Kinder untereinander. Zudem ist vom Standpunkt zweckrationalen Denkens her die Entdeckung von unschätzbarem Wert: Der Zeitaufwand für Musik fehlt nicht bei anderen Schulleistungen, es sind sogar teilweise gesteigerte Leistungen feststellbar. Doch ein Hinweis auf die tendenzielle Richtigkeit der Schlagzeile: „Leichter lernen mit Musik?“ Die günstige Wirkung musikalisch ausgelöster Hirnströme auf die Hemisphären-Verknüpfung, also die Ausbildung von Nervenverbindungen zwischen rechter und linker Gehirnhälfte, die vor allem im Kindesalter stattfindet, gab Bastian als einen weiteren wissenschaftlichen Erklärungsversuch aus einer anderen Disziplin an.
Bastians Studie ist ja nicht die erste und bei weitem nicht einzige zu diesem Themenkreis. Er selbst widmet sich zur Zeit der dankenswerten Aufgabe, für den Deutschen Musikrat eine Zusammenschau aller vorhandenen wissenschaftlichen Ergebnisse anzufertigen. Aber sie ist als Langzeitstudie mit methodisch seriöser Struktur nicht bloß aussagekräftig in Signifikanz und Reliabilität, sondern für unsere heimische Auseinandersetzung insofern brauchbar, als sie in Deutschland unter den hier herrschenden Bedingungen des Aufwachsens von Kindern entstanden ist und daher nicht schon allein durch den Hinweis zu entkräften ist: Ja, bei uns herrschten aber andere Voraussetzungen.
Musikschule und Politik
Aber wer bräuchte uns zu überzeugen? Professor Bastian müßte bei Tagungen der kommunalen Spitzenverbände und der politischen Parteien sprechen, oder? Ja und nein. Wir sind die Multiplikatoren, und wir brauchen jene Ergebnisse, weil der Professor nicht an 1000 Musikschulstandorten Vorträge halten kann. Es kommt jetzt darauf an, wie Musikschulverantwortliche und Musikschulpädagogen mit diesem Instrument umgehen, wem wir es in welcher Weise an die Hand geben. Zum Beispiel kann Bundesjugendministerin Claudia Nolte die für ihr Haus - zuletzt durch ihre Staatssekretärin bei der Eröffnung des Musikschulkongresses - schon mehrfach geäußerte Meinung: Musikschulen förderten auch für die Zukunft unseres Landes wichtige Schlüsselqualifikationen, nun auf objektivere Stützen stellen, und ihre persönliche Erfahrung, daß sie selbst durch das Klavierspiel „Geduld und Konzentration“ erlernt habe, erlangt als persönliches Zeugnis vor diesem Hintergrund neue Beweiskraft.
Erziehung und Verantwortung
Bei aller vorsichtigen Euphorie: Erinnern Sie sich an be- und unberufene Rufer aus dem eigenen Lager, die in musikpädagogischen Fachzeitschriften mit mehr oder weniger Eloquenz gegen die Befrachtung der Musikpädagogik mit fachfremden Ausbildungszielen gewettert haben? Haben sie uns nicht die willkommene bildungs- und gesellschaftspolitische Argumentationsschiene blockiert, kaum daß sie sich auftut? Und sie haben doch in etwas recht.
Seien wir vorsichtig, die „Transfer“-Effekte musikalischer Bildung allzusehr vor uns herzutragen oder allzu simplifizierend darzustellen. Erstens geht eben die Gleichung „Wer Musik macht, ist klüger“ so nicht auf, und zweitens betreiben wir in der Tat Musik-Pädagogik, wir erziehen und bilden zur Musik, zu einem kompetenten Umgang mit Musik, zu einem aktiven Musizieren. Das ist das, was wir können und sollen. Wir erziehen nicht gezielt durch Musik, aber diese Erziehungseffekte können eintreten, ja sie treten in aller Regel ein. Aber - und das ist unsere Verwantwortung: sie treten nur ein bei einer wirklich guten Musikerziehung, die sich ebenso um den Menschen, seine individuellen und situationsbedingten Voraussetzungen kümmert wie um den Gegenstand, den wir ihm vermitteln wollen. Von der Qualität unserer Arbeit ist es abhängig, ob Individuum und Gesellschaft von musikalischer Bildung in der Musikschule profitieren und einen Nutzen aus diesem „Mehrwert“ ziehen können. Wenn wir aber um die wertvollen Nebenwirkungen wissen, die unsere Arbeit zeitigen kann, sollten wir unser Selbstverständnis und Selbstwertgefühl neu verorten.
Es liegt mit diesem „Mehr“ an Bildungseffekt auch ein „Mehr“ an Verantwortung bei uns, das auch ein „Mehr“ an Anerkennung rechtfertigt. Ein „Mehr“ an Verantwortung liegt damit aber auch bei der öffentlichen Hand für den Erhalt und die Qualitätssicherung von Musikschulen, und zwar nicht allein im Sinne einer kommunalen Kulturverantwortung, sondern im Sinne einer auch landespolitischen Bildungshoheit, ja sogar einer national anzusiedelnden gesellschaftspolitischen Dimension. Ein „Mehr“ an Anerkennung bedeutet aber auch, daß Musikschulen nicht ausgetrocknet werden und daß Musikschullehrer nicht als Tagelöhner zu vergüten sind, sondern eine Position als Angestellte im öffentlichen Dienst in der Tat angemessen ist. Denn dieser „öffentliche Dienst“ ist jetzt auf einem neuen Wege nachweisbar.
[nmz1997/nmz9707/dossier/vorlage.htm]