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Musik als Schlüsselqualifikation

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Ein Vortrag von Prof. Olbertz anlässlich des Arbeitstagung des AMJ
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Alle Welt spricht (endlich wieder!) von „Bildung“. Warum? Immer wenn traditionelle Gewissheiten ins Wanken geraten, Zweifel an überkommenen Orientierungs- und Erklärungsmustern für diese Welt aufkommen, lässt uns die damit verbundene Verunsicherung nach verborgenen Ressourcen suchen. Plötzlich werden sie wieder in uns selbst vermutet. Eine Reihe von Symptomen scheint den Ruf nach Bildung zu bestätigen – von Verhaltensauffälligkeiten Jugendlicher über gravierende Wissenslücken beim Schulaustritt, die sich in internationalen schulischen Leistungsvergleichen herausstellen, bis hin zu sozialen Benachteiligungen mangels beherrschter Kulturtechniken, mit der Folge eingeschränkter Entscheidungs- und Handlungsspielräume (etwa bei der Berufswahl).

Alle Welt spricht (endlich wieder!) von „Bildung“. Warum? Immer wenn traditionelle Gewissheiten ins Wanken geraten, Zweifel an überkommenen Orientierungs- und Erklärungsmustern für diese Welt aufkommen, lässt uns die damit verbundene Verunsicherung nach verborgenen Ressourcen suchen. Plötzlich werden sie wieder in uns selbst vermutet. Eine Reihe von Symptomen scheint den Ruf nach Bildung zu bestätigen – von Verhaltensauffälligkeiten Jugendlicher über gravierende Wissenslücken beim Schulaustritt, die sich in internationalen schulischen Leistungsvergleichen herausstellen, bis hin zu sozialen Benachteiligungen mangels beherrschter Kulturtechniken, mit der Folge eingeschränkter Entscheidungs- und Handlungsspielräume (etwa bei der Berufswahl).Bereits seit Mitte der 60er-Jahre ist im Kontext von Überlegungen zur „postindustriellen“ Gesellschaft von der „Wissensgesellschaft“ die Rede. Heute erlebt dieser Begriff eine Renaissance, indem immer größere Aufmerksamkeit dem Wissen und seiner Funktion in modernen Gesellschaften gewidmet wird. Aber ist es mit „Wissen“ allein getan? Als 1979 der Club of Rome „die Diskrepanz zwischen der zunehmenden Komplexität aller Verhältnisse und unserer Fähigkeit, ihr wirksam zu begegnen“ zum weit reichenden Dilemma unserer Zeit erklärte, avancierte das „Lernen“ zum globalen Prob-lem – nicht nur im Hinblick auf sich immer schneller ablösende Lerninhalte, sondern auf Probleme des Lernens selbst (hinsichtlich seiner Methoden, gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, Chancen, Formen et cetera). Geht es aber um Bildung, dann besteht das Problem gar nicht in der ausufernden Quantität menschlichen Wissens, sondern in seiner Qualität.

Weltwunder, -rätsel, -probleme

Wissenschaftsgeschichtlich lässt sich der dahinter verborgene Perspektivenwechsel auf menschliches Wissen mit wenigen Schlagwörtern belegen: Sprach man mit Blick auf die Antike noch von „Weltwundern“, so ging es mit der Neuzeit um die Entschlüsselung von „Welträtseln“ (du Bois-Reymond), während heute – mit Fug und Recht – von „Weltproblemen“ die Rede ist, deren Lösung reflektiertem und verantwortlichem Wissen einen ultimativen Nutzen auferlegt, oder den „Nutzen“ des Überlebens. Die Weltprobleme, zu denen der Club of Rome unter anderem die schwindenden E-nergieressourcen, die globale Umweltverschmutzung, das Bevölkerungswachstum, soziale Disparitäten und neuerdings auch die Sinnfragen der menschlichen Existenz zählt, bilden seit einiger Zeit auch den entscheidenden Anknüpfungspunkt für die Entwicklung neuer Bildungstheorien. Dabei geht es vor allem um die Frage, woran Bildung sich orientieren soll.

Mit Bezug auf die Weltprobleme spricht zum Beispiel Wolfgang Klafki von „Schlüsselproblemen“, denen eine gleichsam paradigmatische Funktion innerhalb einer neu zu entwickelnden, bildungsgangübergreifenden Bildungskonzeption zugeschrieben wird. Mit der Orientierung an solchen Schlüsselproblemen eröffne sich ein Zugang zu einem neuen, relevanteren Begriff von Allgemeinbildung: „Bildung im Medium des Allgemeinen“. Mit dem Stichwort Allgemeinbildung geht es um die Basis für die allgemeine Verständigung und damit Voraussetzung für soziales Handeln, um Orientierung und Sinnfindung für die eigene Existenz. In diesem Sinne formulierte Klafki: „Allgemeinbildung muss verstanden werden als Aneignung der die Menschen gemeinsam angehenden Frage- und Problemstellungen ihrer geschichtlich gewordenen Gegenwart und der sich abzeichnenden Zukunft und als Auseinandersetzung mit diesen gemeinsamen Aufgaben, Problemen, Gefahren“. Sein hier verwurzelter Ansatz der „Schlüsselqualifikationen“ bezieht aus verschiedenen Quellen folgende Kompetenzen – als Zielimplikationen zeitgemäßer Bildung – ein:

  • Kreativität und Fantasie
  • vernetzendes Denken
  • Lernkompetenz
  • Medienkompetenz
  • Verantwortungsbereitschaft und -fähigkeit
  • Kritikbereitschaft und -fähigkeit
  • Kooperationsbereitschaft (Empathie, Teamfähigkeit, Sozialkompetenz)
  • Weltoffenheit

Der Begriff „Schlüsselqualifikationen“ ist demnach als Ausdruck für strukturell qualifiziertes und in vernünftige Handlungszusammenhänge eingebettetes „Wissen“ gemeint. Wo-rin aber könnte und sollte eine allgemein gültige Konstante „grundlegenden Wissens für alle“ bestehen? Gehört es neben Lesen, Schreiben und Rechnen auch dazu, sich in künstlerischen, musischen Dingen auszukennen?

Wo bleibt das Musische?

Neben dem offenen Problem der „Wissensbasierung“ solcher Schlüsselqualifikationen überrascht in diesem Konzept das Fehlen jeglicher „musischer Kompetenz“. Gerade die in der zitierten Auflistung mitschwingende Verlegenheit (Henning Schroer) führt uns das Defizit vor Augen. Musische Defizite markieren eine durch nichts anderes zu ersetzende Lücke im Persönlichkeits- und Kompetenzprofil junger Leute – ein Defizit, das zwar durch die Unfähigkeit, sich mit Musik auseinander zu setzen, sie zu verstehen und sich durch Musik zu artikulieren, identifizierbar ist, aber zugleich auch in jedem anderen rationalen und emotionalen Kompetenzbereich der Persönlichkeit fehlt. Es ist zu vermuten, dass auch die durch internationale Schulleistungsvergleiche festgestellten Defizite in den naturwissenschaftlichen Fächern nicht zuletzt auf einen Mangel an musischer Bildung zurückzuführen sind, denn zum Lösen komplexer Probleme braucht man Fantasie, Vorstellungsvermögen, geschulte Sinne und die Fähigkeit zur ganzheitlichen Wahrnehmung. Wir haben es also mit der Frage nach den pädagogischen beziehungsweise persönlichkeitstheoretischen Begründungen einer vielseitigen, innerlich ausgewogenen Allgemeinbildung zu tun.

Warum ist das Musische für die Idee ganzheitlich ausgeglichener und harmonischer Bildung so wichtig? Vergegenwärtigt man sich das hier verborgene Potenzial, dann wird deutlich, dass von einem unverzichtbaren Bestandteil zeitgemäßer Bildung zu reden ist. Das Bildungspotenzial von Musik entfaltet sich durch

  • die Relativierung und Ergänzung (sogar Ausweitung) „kognitiver“ Wahrheiten, auf die sich gerade die Schule ansonsten stützt: Übung des Empfindens, Hörens, Vernehmens, also der Sensibilisierung unserer Wahrnehmungen, des Gefühls für Zeit und Rhythmus, für Klang, Harmonie und Disharmonie und aller damit verbundenen Ausdrucksmöglichkeiten;
  • sinnliche Erfahrung, das Gefühl für Transzendenz, Verbindung und Zusammenhang (gerade in der sich immer stärker ausdifferenzierenden, aber eben auch zerstückelten Lebens- und Erfahrungswelt Heranwachsender, die durch Musik wieder zusammengefügt werden kann);
  • die Beschäftigung mit dem kulturellen Erbe (Musik als Quelle kultureller und sozialer Identifikation, Entwicklung von Vorstellungen über die Lebensweisen und das Lebensgefühl früherer Generationen, Verstehen der eigenen kulturellen Herkunft). Dies ist ein ganz besonders wichtiger Aspekt, denn wer seine eigenen kulturellen Wurzeln nicht kennt, wird alles Fremde als Bedrohung empfinden. Die kulturelle „Bodenlosigkeit“ gerade junger Menschen ist eine der Quellen von Fremdenhass und Gewalt gegen Menschen mit anderer (oder überhaupt mit!) kultureller Identität, eigener Tradition oder einfach nur anderer Hautfarbe; Begegnungen mit ihnen verstärken dann die unterschwellig tief empfundene Verunsicherung und fordern zur Abwehr, notfalls zur Gewalt, heraus;
  • die Einbettung von Erlebnis und Erinnerung, die Vertiefung von emotionalen Eindrücken in der flüchtigen Welt der „Erlebnisgesellschaft“;
  • die Anregung der Selbstreflexion und des kritischen Bewusstseins – nicht zuletzt im Sinne der Auseinandersetzung mit dem Missbrauchs-
    potenzial von Musik (Aggressivität, Trance, Musik als Droge oder „Ausstieg“ aus der Wirklichkeit);
  • die Überwindung zunehmend monomedialer Bilderwelten hin zu rezipierten beziehungsweise selbst erzeugten Klangwelten als Ausdruck individueller Auseinandersetzung (eingeschlossen die Materialerfahrung beim Einsatz von Instrumenten, zum Beispiel durch Klang, Klangfarbe, Schwingung, Frequenz, Interferenz und so weiter);
  • die soziale Integration durch das Gemeinschaftserleben in der Musik (im produktiven wie im rezeptiven Sinne)
  • das musikalischen Aktivitäten innewohnende Rekreationspotenzial – Musik als Quelle von Trost, Glück, Freude, Muße, Beruhigung in der zeittypischen Beschleunigung und Geschwindigkeit (im Sinne psychischer Stabilität und Ausgeglichenheit);
  • Singen: Gesundheit an Leib und Seele, das heißt, Singen, insbesondere in der Gemeinschaft, trägt zum physischen und psychischen Wohlbefinden bei.

Aus diesem vielfältigen „Bildungswert“ von Musik zu schöpfen, sich ganzheitliche Zugänge zur Welt und zu sich selbst daran zu erschließen, setzt allerdings entsprechende Anregungen, Erfahrungen und Qualifikationen vo-raus. Ohne Praxis, ohne musikalisches Wissen und Können lassen sich die in der Welt der Töne und Klänge verschlüsselten Botschaften ebenso wenig verstehen wie die Signale, die wir selbst in die Welt senden wollen, um an ihrem Lauf teilzunehmen. Gerade das Informations- und Medienzeitalter geht mit einer „paradoxen Verminderung des menschlichen Ausdrucksspektrums“ einher, eben weil alles vorgegeben scheint und hinter der Dominanz des Visuellen (oft in reduzierten Standards, Piktogrammen) zu verschwinden droht.

Die Beschäftigung mit Musik, sei es zur intellektuellen Auseinandersetzung, zur emotionalen Verinnerlichung oder zum ästhetischen Genuss, gründet sich also selbst auf eine Schlüsselqualifikation. Sie ist Quelle der eigenen Ausdrucks- und Kommunikationsmöglichkeiten anderen Menschen gegenüber und ermöglicht zugleich als soziale Kompetenz, nicht nur über Musik miteinander sprechen, sondern auch durch Musik.

Ursachenforschung

Woran liegt es nun, dass musische Kompetenzen, aber auch Bedürfnisse namentlich bei jungen Menschen so schwach ausgeprägt sind, warum trifft man sie zum Beispiel in Konzerten, insbesondere in klassischen, kaum an? Zunächst ganz allgemein gesagt: Es fehlt Begegnung und Erfahrung im Zusammenhang mit Musik, und es fehlt natürlich das Wissen.
Solche Probleme und Defizite im Zusammenhang mit der musischen Bildung liegen meiner Auffassung nach unter anderem:

  • an der stiefmütterlichen Behandlung des Musikunterrichts in der Schule, der am ehesten zur Disposition gestellt wird, wenn zum Beispiel Stunden eingespart werden müssen;
  • an der verloren gegangenen Alltagspraxis des Singens in der Schule – auch jenseits des Musikunterrichts (ich erinnere mich zum Beispiel, dass in den 60er-Jahren noch jeder Schultag, immer in der ersten Stunde, mit einem Lied begonnen wurde, und das waren auch in der DDR keineswegs nur Kampf- und Arbeiterlieder, sondern vor allem Kinder- und Volkslieder);
  • am Fehlen natürlicher Begegnungen mit Singen und Gesang, seit es kein traditionelles Gemeindeleben mehr gibt (immerhin wurde in den Kirchen seit Jahrhunderten eine ganz eigene Gesangs- und Liedkultur gepflegt).
    Damit fehlt die Erfahrung regelmäßigen gemeinsamen Singens, und Ersatzformen haben sich für diese spezielle Gemeinschaftskultur nicht entwickelt. Diese Situation wird verstärkt durch postmoderne Tendenzen der Vereinzelung beziehungsweise Individualisierung schlechthin, das heißt gemeinschaftsfernes „Einzelkämpfertum“ wird verstärkt, nicht zuletzt übrigens auch durch die strukturellen „Einzelarbeitsplätze“ der Mediengesellschaft, die soziale Erlebnisperspektiven eher einengen;
  • an der Vernachlässigung des pädagogischen Potenzials der Musik (insbesondere des Singens) in der Lehrerbildung. Vor allem für die Grundschule ist das gemeinsame Singen ein ganz ursprüngliches pädagogisches Medium, dessen soziales Potenzial häufig unterschätzt wird – nicht zuletzt im Hinblick auf die psychische Entlastung der Lehrerinnen und Lehrer selbst, wenn sie es schaffen, die Energien der Kinder in gemeinsamem Singen zu bündeln und zu „kanalisieren“. Es müsste also deutlich mehr öffentlich geförderte außerschulische, jedoch schulnahe musikalische (praktische musikpädagogische) Angebote geben. Das schließt auch eine profunde schulgesangliche Ausbildung ein, denn viele junge Leute singen mit mehr als fraglicher Stimm- und Atemtechnik in irgendwelchen „Bands“, aber die Voraussetzungen für gesundes, entspanntes und schönes Singen sind dort selten gegeben.

Kanon im Kanon

Nicht ohne Grund ist auch im Bildungsdiskurs der jüngsten Zeit wieder vom Kanon die Rede. Dabei geht es nicht um eine lebensfremde Addition von vorgeschriebenem und geordnetem Lernstoff, sondern um das, was „zwischen“ seinen Gliedern schwingt. Schon im antiken Bildungskanon der „septem artes liberales“ war die Musik enthalten. Bildungstheoretikern, insbesondere „kanonkritischen“, sollte man die Rezeption des Kanonbegriffs der Musik empfehlen: Dort bezeichnet er eine Form, bei der verschiedene Stimmen in geregelten Abständen nacheinander einsetzen und sich harmonisch zu einem Ganzen fügen. Keine darf fehlen. Was für eine schöne Vorstellung auch für unsere Bildungskonzeption!

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