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Südafrikanische Jugendliche singen und klatschen in bunter Konzertkleidung.

Der Mzanzi-Youth-Choir.

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Transatlantische Beobachtungen

Untertitel
Hat die „Weiß-heit“ der Fantasie der westlichen Chormusik Grenzen gesetzt?
Vorspann / Teaser

In den vergangenen Jahren haben mehrere Faktoren die allgemein anerkannte Stellung der „klassischen“ Musik europäischer Tradition als internationalen Qualitätsstandard in Frage gestellt. In den Vereinigten Staaten führten die Neuerstarkung der BlackLives-Matter-Bewegung nach dem Mord an George Floyd sowie Ungerechtigkeiten im Gesundheitswesen in Gegenden mit farbiger Bevölkerung, die bei der Covid-19-Pandemie zu Tage traten, zu einem längst überfälligen, landesweiten Neudenken in Bezug auf systemischen Rassismus. Alle Aspekte der amerikanischen Gesellschaft, einschließlich unserer Gemeinschaft des Chorsingens, wurden herausgefordert, sich ernsthaft von neuem mit der Art und Weise auseinanderzusetzen, in der rassische und genderbedingte Vorurteile unser Leben verzerrt haben und Ungerechtigkeiten schufen, die nicht länger ignoriert werden konnten.

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Wenn wir jedoch jetzt zurückblicken, so stellt sich heraus, dass das, was am Anfang als seltener Moment nationaler Einheit erschien, sich in noch intensivere Bitternis und Zersplitterung entwickelte. Manche unter uns fürchteten, dass der Lebensstil und lange akzeptierte Niveau-Standards (z.B. „klassische“ Musik) bedroht waren oder zumindest sich „zu schnell“ änderten. Ist die „klassische“ Tradition am Aussterben? Orchester und Chöre auf allen Ebenen sind seit der Pandemie mit einem verkleinerten Publikum konfrontiert, wodurch ihr Überleben auf lange Sicht in Frage gestellt wird.

Das, was wir als „klassische“ Musik bezeichnet haben, hat seine Wurzeln in Wien, während der Wende vom achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert. Dieser Zeitabschnitt wurde beherrscht von drei Komponisten – Haydn, Mozart und Beethoven – die den klassischen Stil formten. Die tonale, harmonische und melodische Struktur, die sich in diesem kurzen Zeitraum herauskristallisierte, wurde zum dauerhaften Fundament nicht nur der Musik bei Hof, in der Kirche und – später – im Konzertsaal, sondern auch der meisten westlichen Popularmusik, bis zum heutigen Tag.

Im Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts sollte die Vorherrschaft des Wiener klassischen Stils auch bald Komponisten aus Ländern, die nicht Deutsch sprachen, dazu inspirieren, für ihre eigenen nationalen Überlieferungen unabhängige stilistische Identitäten ins Leben zu rufen. Antonin Dvořák kam 1892 in New York an, um am American Conservatory zu unterrichten. Seine Empfehlung, dass amerikanische Komponisten sich für ihre eigene Inspiration an die Musik der indigenen Bevölkerung und der Afro-Amerikaner wenden sollten, stieß weitgehend auf taube Ohren, außer unter der langsam anwachsenden Zahl der afro-amerikanischen Komponisten, die begannen, Chor- und Orchestermusik zu schreiben, die zum Teil auf Spirituals zurückgriff. Im Rückblick mag die Welt Dvořák unerwartet Recht gegeben haben, durch den überwältigenden internationalen Erfolg und den Einfluss der Musik aus schwarzen und jüdischen amerikanischen Traditionen – jedoch außerhalb der elitäreren Konzertsäle der „klassischen“ Musik.

1999 nahm ich an der internationalen Konferenz der IFCM in Rotterdam teil. Ich ertrank fast in der Vielfalt von Chorklängen und -stilen, aber einer Tatsache konnte ich nicht entfliehen: Jeder Chor aus Westeuropa und den Vereinigten Staaten war schwarz gekleidet und stand während des Singens stockstill, während jeder Chor aus anderen Gebieten der Welt in die für seine kulturelle Überlieferung typisch leuchtenden Farben gekleidet war und sich beim Singen entsprechend bewegte. Wenn ich zurückblicke, frage ich mich, ob das eine unbeabsichtigte Kundgebung in Bezug auf die soziale Struktur des „Weiß-seins“ im Chorsingen war.

Voriges Jahr besuchte ich eine Aufführung von Sun & Sea, eine „Opern-Aufführung“, die im Rahmen des Philly Fringe Festivals von einer Gruppe Sänger und Schauspieler aus Litauen in einem verlassenen Fabriklagerhaus angeboten wurde. Das Ganze spielte auf einem Strand – tonnenweise Sand auf dem Boden – mit komplizierten Gerüsten über diesem „Strand“, von denen aus das Publikum zuhören konnte, während es auf die Ausführenden hinunterstarrte. Die Musik bestand aus einer vorgefertigten minimalistischen Tonlandschaft, die abgespielt wurde, während die dreizehn Sänger – solis­tisch und zusammen – unbewegt sangen, wobei sie auf dem Rücken lagen.

Das erinnerte mich an eine Reihe während der Pandemie geschriebener Chorwerke, in denen die Sänger*innen aufgefordert werden, teilnahmslos zu stehen und ohne Ausdruck Worte zu singen, welche die Langeweile und Isolation jener Zeit darstellen.

Ich konnte nicht anders als mich wieder zu wundern: Ist das die „klassische“ Chormusik unserer Tage? Was kommt als Nächstes, nachdem wir gestattet haben, dass alles Lebensblut aus unserem Singen ablaufen durfte? Ist die Banalität, das unausweichliche Ergebnis solcher Aufführungen, so viel besser als der Makel musikalischer Sentimentalität, den wir (verständlicherweise) so sorgfältig zu vermeiden trachteten?

Können wir einen Weg in die Zukunft finden in einer Musik, die die Stile und die Substanz der so unterschiedlichen Kulturen der Zeiten und Orte, in denen wir leben, wiedergibt oder zumindest eine Verbindung zu ihnen hat? Vielleicht – wenn wir unser Bedürfnis aufgeben, einen abstrakten, hochfliegenden „Weltstandard“ der künstlerischen Werte zu vertreten, der für alle musikalischen Genres und Stile gilt, nicht nur unseren eigenen – mögen wir wieder authentischen künstlerischen Identitäten begegnen. Können wir Wege finden, unsere individuellen und gemeinsamen Leidenschaften und Widersprüche zum Ausdruck zu bringen, ohne Sentimentalität, aber voller Leben, Farbe und Persönlichkeit?

Ich hoffe es. Unsere Kollegen – die nicht mehr nur von außen das betrachten, was sich in einen exklusiven Verein von weißen, maskulinen Aufführungsstilen entwickelt hatte – zeigen uns den Weg.

Thomas Lloyd, Professor im Ruhestand am Haverford College, ist Dirigent, Komponist und Sänger. Die Aufnahme der Uraufführung seines 70 Minuten langen Chorthea­terwerkes „Bonhoeffer“ durch The Crossing wurde 2017 in der Kategorie „beste Choraufführung“ für einen GRAMMY nominiert.
Aus: International Choral Magazine 3/2023, hier gekürzt von Dr. h.c. Lore Auerbach

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