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Die Komponistin sitzt an einem Tisch mit diversen kleinen Instrumenten. Sie trägt eine Brille, eine bunte Bluse und hat die Hände auf einem Gerät. Wahrscheinlich ein Gerät zur Wiedergabe von Blindenschrift.

Alexandra Klein bei ihrer Präsentationsveranstaltung als Komponistin im Rahmen der Initiative „Rhapsody in School“. Foto: Margret Peter-Conrad

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Meine Töne hören, ordnen, mitteilen

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Besonderheiten und Herausforderungen als erblindete Komponistin
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Historische Gegebenheiten, senso-psychomotorische und philosophische Besonderheiten, musikalisch-technische Herausforderungen sowie zwei Leidensgenoss:innen / Vorbilder beeinflussen und begleiten meinen kompositorischen Entwicklungsweg.

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Als ich mit 17 Jahren erblindete, musste ich vom Sehen Abschied nehmen, mein Leben und meine bereits vorhandenen musikalischen Vorkenntnisse, Begabungen und Interessen neu erschließen. Dies wurde in der BF Musik für Blinde München umfassend fachlich rehabilitiert, auch durch die inklusive Lehre von Prof. Dr. Clemens Kühn. Selbstverständlich ist eine Erblindung mit 17 etwas anderes als mit 50. Als ich mein Vorbild York Höller 1994 im Gasteig hörte, sprach und ein Autogramm bekam, war er am Anfang der Erblindung, aber in der Komposition bereits Meis­ter und Kompositionsprofessor. Ich war am Ende der Bewältigung einer Erblindung, aber am Anfang des Komponierens. 2014 reiste ich zu seinem Stück VOYAGE, einer inneren Klangreise, wie er schreibt. Seitdem unterstützt er mich nach seinen Möglichkeiten; wir begegnen uns, bereichern uns und tauschen uns aus.

Blindenmusikpädagogik

Die Folgen von Blindheit beziehungsweise die (musikalischen) Förderungen im senso-psychomotorischen Bereich (Fühlen, Gleichgewicht, Koordination, Geschicklichkeit, Erleben, Ausdrücken von Gefühlen, Mimik, Gehen, Sprechen) werden notwendigerweise durch zwei Begriffe der philosophischen Blindenpsychologie begleitet. Zum einen die Lehre vom Sinnenvikariat, also die Gewährung der Sinnesstellvertretung, dem Funktionsersatz; der Drucksinn/das Tasten vikariiert für das Gesicht, der Körpersinn für das Gehör. Zum anderen die Surrogatvorstellung (Ersatzvorstellung von Gegenständen, Natur, Räumen und Menschen durch Gehör, Geruch, Haut, andere Assoziationen je nach Entfernung).

Die im 3. Lebensjahr erblindete Wiener Pianistin, Organistin, Sängerin, Komponistin und Musikpädagogin Maria Theresia von Paradis (1759–1824) ist die Repräsentantin und Begründerin der europäischen Blindenpädagogik und Blindenmusikpädagogik. Sie spielte in höheren Kreisen, wurde von der Kaiserin unterstützt, war mit Joseph Haydn und Wolfgang Amadeus Mozart bekannt, und ihre Lehrer waren unter anderem Antonio Salieri und Leopold Kozeluch. Auf einer dreijährigen Europakonzerttournee inspirierte sie insbesondere Valentin Haüy in Paris und Johann Wilhelm Klein in Wien und Berlin zur Blindenbildung, die nicht zwischen den Geschlechtern unterscheidet: „Das Los der Blindheit ist für beide Geschlechter gleich traurig“ (Klein, S. 13, Lehrbuch zum Unterrichte der Blinden, Wien 1819). Mit einem Setzkas­ten korrespondierte sie, schrieb Noten und unterrichtete blinde und sehende Schülerinnen. In Paris beschäftigte sie sich mit der Kompositionslehre und mit Mitteln, Akkorde zu notieren. Darauf aufbauend entwickelte Louis Braille die 6-Punkte Brailleschrift, der Grundstein für die daraus abgeleitete Braille-Blindennotenschrift.

Braille-Blindennotenschrift

Der Musikologe und Autor des Musiklexikons Hugo Riemann hatte zu Lebzeiten keinen Kontakt zu blinden Musiker:innen und Komponist:innen gesucht, und so findet bedauerlicherweise die Braille-Blindennotenschrift in seinen Studien zur Geschichte der Notenschrift (Leipzig 1878) keine Erwähnung. In seinen Ideen zu einer Lehre von den Tonvorstellungen 1914 verweist er jedoch auf die Skizzenbücher des späten Beethoven, also auf Gehörlosigkeit von Komponist:innen. Die Blindennotation und die inklusive Definition der Notenschrift/Notation befinden sich seit 1995 nunmehr in der MGG (Die Musik in Geschichte und Gegenwart).

Wie komponiere ich selbst? Ich sammle musikalisches Material, das auf vielfältige Erweiterung, Übergänge, Variation und Zusammenstellung angelegt ist – ein Capriccietto für Violine von 1996 ist zum Beispiel absichtlich als Fortsetzungsmöglichkeit komponiert. Voriges Jahr gesellten sich den ganzen Sommer über zwei friedliche Hornissen hinters Haus unter den Birnbaum. Ich griff am Klavier direkt die Lage, in der sie brummten: kleines c und großes A, die klanglichen Vibrationen sind mir innerlich präsent, wenn ich jetzt daran denke. Ich hörte sofort eine Instrumentation. Daraus entstand die Idee für ein Bicinium oder Trio mit Stimme oder Trommel. Meinen Liedtext „Der scheidende Sommer“ (2022) von Heinrich Heine las ich zunächst aus dem Internet mit der Braillezeile ab und lernte den Text auswendig. Schon beim Sprechen, Aufsagen und Versabzählen mit den Fingern ergab sich die Melodie und die Erkenntnis, dass ich ein variiertes Strophenlied gestalten kann – die tontextmalerische Klavierbegleitung ergab sich zeitig darauf.

Komponieren ist für mich eine wichtige, wertvolle inner-äußerliche Reise, die Musik eine schöne Vermittlerin: Hell und Dunkel (des Lebens), Dinge und Menschen (des Lebens), Klangkörper der Instrumente, Grenzen und Fantasie, die Welt mit meinen Tönen körperlich-seelisch-geistig auszudrücken, in Beziehung, Gleichgewicht, Bewegung zu setzen und miteinander zu teilen. Im Hilflosigkeitszustand der Blindheit, also extremer Reduzierung auf eine Fingerkuppe, sei es mit Braillezeile und/oder Tastatur und/oder Screenreader. Es lohnt sich sehr, den Weg (jetzt) weiterzugehen, da ich bereits einen sehr großen, professionellen, mehrfachqualifizierten und erfahrungsreichen Weg gemacht habe.

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