„Singe, wem Gesang gegeben“ – diese gern zitierte Zeile aus einem Gedicht Ludwig Uhlands ist zugleich richtig und falsch.

Bürgersingen im Leipziger Johannapark. Foto: Winfried Kurtzke/Bürgerstiftung Leipzig
Ein Musikinstrument, das jeder hat
Nachweislich fördert Singen die Konzentration, hilft gegen Schmerz, Stress und Depressionen. Schon nach zwanzig Minuten Gesang produziert das Gehirn Botenstoffe, die körperliche und seelische Vorgänge positiv beeinflussen. Singen stärkt das Immunsystem, aktiviert die Atmung und den Kreislauf. Wer singt, schläft besser und hat eine höhere Lebenserwartung. Gemeinsames Singen verbindet. „Das Singen ist die eigentliche Muttersprache der Menschen, denn sie ist die natürlichste und einfachste Weise, in der wir ungeteilt da sind und uns ganz mitteilen können“, schrieb Yehudi Menuhin.
Unzutreffend ist hingegen die Vorstellung, die Gabe des Gesangs sei nur wenigen Menschen gegeben. Eltern wissen aus Erfahrung: Alle Kinder singen. Zumindest so lange, bis es ihnen irgendwer vergrault. Manche Paläoanthropologen sind der Auffassung, dass sich unsere Urahnen zuerst singend miteinander verständigten, bevor es die Sprache gab. Singen ist also etwas elementar Wichtiges und Schönes.
Daher ist es zu begrüßen, dass die deutschen Landesmusikräte als „Instrument des Jahres“ 2025 die Stimme auswählten, ein Instrument, das ausnahmslos alle Menschen von Geburt an besitzen. Ohne unsere Stimme könnten wir weder lachen noch weinen, weder flüstern noch schreien, noch nicht mal husten oder krächzen. Vor allem aber könnten wir nicht singen.
Volk der ersten Strophe
Deutsche gelten als „Volk der ersten Strophe“. Wir haben das Singen verlernt, weil wir’s so selten tun. Dabei hatte es doch so gut angefangen. Martin Luther verdanken wir ja nicht nur die deutsche Sprache, sondern auch den Gemeindegesang. Dabei konnte der Reformator an das Volkslied anknüpfen, das ganz selbstverständlich zum Leben der einfachen Menschen gehörte.
Im 19. Jahrhundert spielte es dann überall in Europa eine wichtige Rolle bei der Nationenbildung. Auch hierzulande sammelte man eifrig Volkslieder und komponierte „im Volkston“. Liedertafeln und Gesangsvereine schlossen sich 1862 zum Deutschen Sängerbund zusammen. Aber auch Turner sangen, Studenten, Handwerksgesellen, die entstehende Arbeiterbewegung.
Zugleich führte die Industrialisierung zur Auflösung dörflicher Singgemeinschaften. Die stürmische Technikentwicklung bot immer neue Möglichkeiten des passiven Musikhörens: Musikautomat, Grammophon, Radio, Kino, Fernsehen, Schallplatte, Tonband, Audiokassette, CD, Kofferradio, Walkman, Smartphone.
Gemeinsam singen
Heute gibt es in Deutschland 21.000 weltliche und 33.000 Kirchenchöre mit 1,8 Millionen Mitgliedern. Nicht jeder und jede kann und will in einem Chor singen. Eher schon am Lagerfeuer oder beim Wandern. Jugendbewegung und Wandervogel bewirkten ab 1900 einen ungeheuren Aufschwung des geselligen Singens. Ihr wichtigstes Liederbuch, der „Zupfgeigenhansl“, erreichte eine Millionen-Auflage.
In der DDR entstanden seit Mitte der 60er Jahre an vielen Orten Singegruppen, in denen Schüler, Lehrlinge und Studenten, meist zur Gitarre, gemeinsam Volkslieder, Folksongs und selbstgeschriebene Lieder sangen. In ihrer besten Zeit umfasste die Singebewegung 4.000 Gruppen. Zu Beginn der 70er Jahre ging deren Zahl rapide zurück, nicht zuletzt wegen der politischen Instrumentalisierung der Bewegung durch die Staatsjugend FDJ.
Es entwickelte sich, wie zuvor schon in der Bundesrepublik, auch in der DDR eine Folkszene. Das Deutschfolk-Revival der 70er und 80er Jahre führte zu einer Renaissance von Volkslied und Volkstanz, wie sie bis dahin im 20. Jahrhundert nur die Wandervogel-Bewegung hervorbrachte.
Diesseits und jenseits der Mauer sang und spielte man zunächst Irish Folk, deftige, nicht selten rebellische Songs im Stil der Dubliners. Auf der Suche nach Ähnlichem im eigenen Erbe wurde man fündig in Wolfgang Steinitz’ Sammlung „Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten“.
Bauernklagen, Lieder der 1848er Revolution, Spottlieder gegen Spießer, Auswandererlieder, aufmüpfige Lieder der Handwerksgesellen erklangen nun in DDR-Studenten- und Jugendklubs. Das Publikum sang begeistert mit, vor allem, wenn über den Umweg der historischen Lieder aktuelle Tabuthemen angesprochen wurden, etwa der ungeliebte Wehrdienst oder die fehlende Reisefreiheit.
Ab 1980 trat das Singen in der DDR-Folkszene freilich in den Hintergrund. Stattdessen füllte der Folktanz große Säle wie die Leipziger Kongresshalle mit bis zu tausend Tänzern. Das Repertoire der Bands, erst recht nach 1990, wurde internationaler – englisch, schwedisch, bretonisch, dazu Musik vom Balkan, Klezmer, außerdem weiterhin Irisches und Schottisches.
2020 wurde die DeutschFolk-Initiative gegründet. Unter dem Dach von PROFOLK, dem Bundesverband für Lied, Folk und Weltmusik, versteht sie sich als „Netzwerk für alle, die sich für traditionelle oder traditionell inspirierte Musik aus den Regionen Deutschlands begeistern können.“ Rund ein Dutzend professionelle Bands aus neun Bundesländern schlossen sich an.
Sing-Erfahrung
Wie halten es Vertreter der Initiative mit dem „Instrument des Jahres 2025“? Tim Liebert alias Doc Fritz von der Band Hüsch aus Jena: „Ich singe fast immer (was für meine Freundin und mein Umfeld manchmal sicher nicht leicht ist). Singen ist mein Beruf. Daher singe ich viel auf Bühnen. Trotzdem singen wir auch im Freundeskreis sehr viel. Es gehört zu jedem Fest.“
Ähnlich Jessica Jäckel, Sängerin von Tworna aus Quohren bei Dresden: „Unabhängig vom Singen bei Konzerten, das mir große Freude bereitet, besonders, wenn Leute sich auch eingeladen fühlen mitzusingen oder sich die Blicke begegnen, trällere ich gerne mit Senior*innen und immer wieder voller Inbrunst für das Wesen an meiner Seite, in das ich sehr verliebt bin.“
Michael Möllers aus Hannover von Dahlhoff – die Band, erinnert sich an seine Anfänge als Sänger: „Meine Ausbildung begann in Kindergarten, Grundschule und im städtischen Kinderchor Rheine. Erster Auftritt mit meinem Bruder Hannes in einem Kinderweihnachtsoratorium als Sänger der Weihnachtsgeschichte: zwei Sopränchen mit sechs und acht.“
Sing-Vorbilder
Ihre Liebe zum Singen verdanken die allermeisten der Mutter, die mit ihnen gesungen hat. Bei Tim Liebert war es der Vater (und später die Folkszene): „Kein Familienfest ohne Lied, von Schlager bis vogtländische Mundart. Ein Katalysator zum Vielsingen war bestimmt auch der hohe Grad an Musikbesessenheit in der ostdeutschen Subkultur der 80er Jahre, speziell der Folkblase“.
Wolfgang Rieck, niederdeutscher Liedermacher von der Ostseeküste, nennt beide Eltern „und die Beatles, die mich 1963 zur Musik gebracht haben“. Für Jessica Jäckel spielten außer ihrer Mutter auch die amerikanische Singer-Songwriterin Tori Amos und die Rocksängerin Courtney Love eine Rolle.
Henrike Eckhardt vom Duo Erledanz aus Ansbach mochte als Kind nicht singen, wenn andere zuhörten. Sie wuchs mit Katja Ebstein, Mireille Mathieu, Milva & Co., mit der aktuellen Hitparade auf. „Sie heimlich zu imitieren war ein großer Spaß. Vor allem auf Englisch oder was ich dafür hielt. Als ich etwas älter war, kaufte sich mein Vater eine Gitarre, nahm Unterricht und sang dazu Lieder. Das fand ich super! Er brachte mir drei Gitarrengriffe bei. Damit kam ich schon ziemlich weit, ich wusste nicht, dass ich bereits Folk spielte. Später wurde ich Mitglied in einem Jugend-Naturverein, wo die Abendunterhaltung aus gemeinsamem Singen bestand, begleitet auf den Instrumenten, die man so konnte. Am Lagerfeuer, am See, im Zug, Schlafsack, Küchenzelt...
Da traute sogar ich mich zu singen, allein mit einer geliehenen Gitarre. Und freute mich über meine Zuhörerschaft, die sich gut unterhalten fühlte und mir Anerkennung entgegenbrachte.“
Sing-Hindernisse
Alle Kinder singen gern. Viele verlieren später die Lust daran. Wie ließe sich das ändern? Dazu Vivien Zeller von den TradTöchtern aus Berlin: „Indem Kinder nicht in der Schule zum Singen auf Zensur und vor anderen gezwungen werden. Indem Kinder nicht zu hören bekommen ‚Du kannst nicht singen‘“. Gudrun Walther aus Lenningen in Baden-Württemberg von der Band Deitsch findet: „Im Musikunterricht in der Schule sollte oft und regelmäßig gesungen werden, als festes Ritual“. Henrike Eckhardt: „Wichtig ist eine Gemeinschaft, in der gesungen wird, wo keine Bewertung stattfindet und jeder sich willkommen fühlen kann. Wo die Coolsten die sind, die die meisten Lieder kennen und sich und die anderen mit Gitarre, Waldzither und Co. begleiten können“. Wolfgang Rieck hält es für wichtig, dass die Eltern ihren Kindern das Singen als ganz natürliche Lebensäußerung vorleben. Zustimmung von Michael Möllers: „Meinen beiden Töchtern habe ich jeden Abend Schlaflieder gesungen, bei Familientreffen und -festen wurde und wird immer gesungen“.
Sing-Förderung
Und wie kann die Deutschfolkszene das Singen unterstützen? Wolfgang Rieck: „Angebote zum Mitsingen für ganz ‚normales‘ Publikum schaffen, denn die positive Erfahrung des Miteinander-Singens ist einmalig!“. Gudrun Walther: „In unseren Konzerten plane ich jedes Mal ein paar Lieder ein, bei denen das Publikum mitsingt. Ich sage dann immer, dass es erwiesen ist, dass gemeinsames Singen glücklich macht und gut für die Gesundheit ist. Und das stimmt ja auch!“ Tim Liebert: „Ganz praktisch bieten wir Mitsingangebote an, etwa Mitsingabende in Weinlokalen. Meiner Erfahrung nach wird das super angenommen. Vor allem Leute, denen immer gesagt wurde, du kannst nicht singen, sind dankbar und bewegt“. Henrike Eckhardt: „Das Wunderbare ist, dass alles schon da ist. Folk ist eine Musikrichtung, in die man sich schnell einfindet, da die Melodien oft einfach zu erlernen sind, ohne jahrelanges Üben. Wichtig ist, dass die Deutschfolkszene das alles vermittelt und bietet. Zum einen Sessions, wo alle mitmachen können, aber auch die hochkarätigen Bands, die zeigen, was man daraus entwickeln kann.“
Übrigens: Die Bürgerstiftungen von Halle, Leipzig und Jena laden im Sommer jede Woche zum gemeinsamen Singen unter freiem Himmel. 2003 veranstaltete der Fußballclub Union Berlin erstmals ein Weihnachtsliedersingen im Stadion. Diesem Beispiel folgten bisher 20 Klubs.
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