Ja, behaupte ich, Siegfried Matthus (1934–2021) war ein bedeutender Komponist des 20./21. Jahrhunderts. Und: Nein, ich repräsentiere nicht „die“ Meinung eben jener Zeit. Aber ich bin ihm einige Male persönlich begegnet, habe ihn in verschiedenen Situationen erlebt, ihn als Musikjournalist mehrmals exklusiv interviewt.
Vom Heftigsten bis zum Allerschönsten
Hier in Stolzenhagen sei er zuhause, sagte er. Das Landschaftsbild mit Bäumen und Wasser erinnerten ihn an seine Kindheit in Ostpreußen. Wichtige Werke wie das Paukenkonzert „Der Wald“ und das Harfenkonzert „Der See“ entstanden hier 1984 beziehungsweise 1989. Vor der großen Fensterfront des Terrassenzimmers im Haus der Eheleute Matthus in Stolzenhagen breitet sich eine Parklandschaft mit gepflegtem Rasen aus, darinnen ein paar Skulpturen, gerahmt von mächtigen Kiefern und Eichen. In einem Kübel blüht -– Ende November – unverdrossen eine Teerose. Hinten an der Wand Regale mit Bildbänden, unter anderem über den DDR-Stararchitekten Herrmann Henselmann, deutsche Küchenspezialitäten, Schinkels „Reisen durch Italien“, „Prinz Heinrich von Preußen – ein Europäer in Rheinsberg“, Spanien, Schwetzingen.
Heyn: Diese vielen Bücher habe ich immer bewundert, als ich von 1972 bis 1974 Meisterschüler bei ihm war. Er gab mit immer etliche zum Lesen mit. Nur die Bildbände rückte er nie heraus. Der Katalog der Schwetzinger Festspiele lag aber immer griffbereit. Diese Aufführungen muss er sehr genossen haben…
Aber seine aufregendste Reise, sagt Siegfried Matthus, sei die von 1988 gewesen. Für einen Bericht über die Entstehung der Oper „Graf Mirabeau“ beim DDR–Fernsehen hatte er - nach vielem Hin und Her mit Visa, Drehgenehmigungen und so weiter – seinen Geburtsort in Mallenuppen, an der Ostgrenze des damaligen Ostpreußens in Russland, aufgesucht und den letzten Kilometer bis zum Haus seiner Eltern – genauer dessen Grundmauern – aus der Erinnerung nach 44 Jahren gefunden. „Ja sdjes rodilsja“, (Ich bin hier geboren) sagt er und eine Russin, Anfang 40, erwidert: „Ja toshe“ (Ich auch). Sie kam aus dem Raum Leningrad hierher, nachdem die Familie Matthus im Oktober 1944 von hier weg war. „Wir sind beide Vertriebene“, sagt der 78– Jährige heute lächelnd. Aber die Geschichte seiner gefahrvollen Flucht über die Weichsel und das Haff, bei der der damals 10– Jährige die Planwagen im Auge behalten sollte, auf die die Habe der Familie verteilt war, bei der die sterbende Großmutter besonders betreut werden musste und er dann von der schwangeren Mutter mit den Geschwistern getrennt wurde, geht ihm noch immer nahe.
Heyn: Die Mutter schneiderte nebenbei, wie meine Mutter und wahrscheinlich alle Mütter dieser Zeit auch. Der Vater konnte Geige und Trompete spielen und machte nebenbei Tanzmusik und hat ihm diese Instrumente auch beigebracht. Da lebte die Familie schon im Landkreis Ruppin.
Sein „Lamento“, Musikalische Erinnerungen für großes Orchester und Sopransolo, ein Auftragswerk der Münchner Philharmoniker, 2007 unter Christian Thielemann uraufgeführt, behandelt diesen Teil seiner Biografie in sechs ineinander übergehenden Sätzen Lamento I. Kindheit – Krieg – Kälte – Katastrophe – Lamento I. Die „dramatische Geschichte, die zugleich Zeitgeschichte ist“ möchte er zudem in einer Gesamt-Biografie festhalten.
Im Frühjahr 1980 interviewte ich den Künstler für den „Sonntag“ über alte und neue Hörgewohnheiten. Matthus sagte damals: „Dächte ich beim Arbeiten immer nur an irgendwelche angenommenen Hörgewohnheiten, würde ich noch kein Stück zu Papier gebracht haben. Die Forderung an uns, jede Hörgewohnheit zu berücksichtigen ist unfair und unerfüllbar. Außerdem bin ich der Meinung, dass heute alle Hörerwartungen und -bedürfnisse bedient werden...“
Zum gerade geprägten Begriff der „Neuen Einfachheit“, um neue Hörerschichten zu erreichen, sagte er kategorisch: „Immer wieder werden neue Begriffe erfunden, keiner weiß letztlich, von wem überhaupt. Er ist zu nichts, aber auch zu gar nichts nütze. Bitte vergessen Sie ihn! Denken Sie an Bachs ‚Kunst der Fuge‘ – die war vielleicht kompliziert in der Machart. Für den aber, der richtig hinhörte, war sie wiederum ganz einfach. Große Kunst hat ja irgendwie auch ganz einfach zu sein. Einfach und kompliziert allein sind jedoch noch keine ästhetische Qualität... wenn Musik etwas kann, dann kann sie etwas zum Ausdruck bringen. Man muss daher versuchen, nach neuen Ausdrucksqualitäten zu suchen...“
Heyn: Wikipedia meint dazu:„Die Neue Einfachheit war eine Stilrichtung der Neuen Musik. Eine Definition ist insofern schwierig, als der Begriff keine feste ‚Schule’ oder Gruppierung in der neuen Musik bezeichnet, sondern eher eine Kompositionshaltung. Zumeist wird der Begriff auch nicht von den Komponisten selbst benutzt, sondern von Musikwissenschaftlern (seit Ende der 1970er Jahre) oder Musikjournalisten geprägt, um dieses Phänomen zu beschreiben. Die Komponisten zogen hingegen andere Begrifflichkeiten vor, etwa Neue Vielfalt oder Neue Eindeutigkeit, wie Wolfgang Rihm 1977 vorschlug.“
Die Neue Einfachheit in der DDR, die von der Kulturbürokratie gefordert und stark gefördert wurde, zielte dagegen schlicht auf Versimpelung der musikalischen Strukturen, um die Werktätigen besser „erreichen“ zu können. Meiner Erinnerung nach hat der Leipziger Komponist Fritz Geißler den Begriff für die DDR adaptiert und auch so komponiert. Ich spielte als Student seine Hochschuloper „Die Stadtpfeifer“ mit: diese Musik ging bis zum Singeclub-Lied mit 3 Akkorden hinunter und zu einer Art Lortzing-Spieloperngestus wieder hinauf. Es war schnell wieder vorbei. Kein anderer Komponist nahm das ernst.
Beiseite Geschobenes
Matthus sagte weiter: ‚stattdessen würden „auf musikalischem Gebiet oftmals auch Dinge beiseitegeschoben..., die dann eine Zeit lang fehlen. Dann werden sie vermisst. Als Komponisten sollten wir daher...zusammen mit den aufgeschlossenen Hörern versuchen, …etwas lange Zeit Vergessenes, Beiseitegeschobenes neu zu entdecken…“.
Heyn: Matthus interessierte sich aber immer für alles Mögliche auf dem Gebiet der Musik. Eines Tages – er hatte gerade die „Cornet“-Partitur für Dresden auf dem Tisch – fragte er mich nach der Bassgitarre, der Stimmung der Saiten, der Spielart. Und als ich zur Premiere in der Semperoper saß, sah ich tatsächlich einen Bassgitarristen im Orchester sitzen. Und Matthus war sehr erfreut, als in der Gesprächsrunde danach (oder davor?) ein junger Mensch genau dieses Detail besonders interessant fand und ausdrücklich nachfragte, warum und wieso der Meister…
Als wir uns nach über 30 Jahren wieder begegneten, war er gerade dabei, zusammen mit Freya Klier seine Biografie zu schreiben. Und das merkt man in jedem Satz, den er darüber spricht – er war nicht glücklich dabei. Beim Lesen der ersten Seiten über die schicksalsträchtige Flucht aus Ostpreußen, ist klar, warum. Es sind der Kinderbuchduktus und ein distanzierter Ton, die nicht den Charakter und die Dramatik jener Zeit abbilden.
Ich fragte ihn nach dem seiner Meinung nach einschneidendsten Ereignis für die Welt überhaupt und er antwortete: „Dass die beiden Deutschlands wieder zusammenkamen, war ein echtes Wunder und nur möglich, weil es neben vielen anderen Gründen die gemeinsamen kulturellen Traditionen gab, Beethoven, Mozart, Richard Strauss, Goethe und Thomas Mann. „Auch wenn Sie danach nicht fragen“, fährt er fort, „es bereitet mir große Sorge, dass 80 Prozent unserer Schüler heute keinen Musikunterricht haben. Eine ganze Generation kennt heute schon nicht mehr unsere klassischen Musiktraditionen, die zur Weltkultur gehören.“
Sorgen machte er sich auch zunehmend um sein Hauptbetätigungsfeld: das Musiktheater. Neben Hans Werner Henze war und ist er vermutlich der meistgespielte deutsche Opernkomponist des 20. und 21. Jahrhunderts. „Judith“ , „Cornet“, die „Unendliche Geschichte“ sind von den Theaterbühnen längst nicht mehr wegzudenken. Man sollte aufhören, „nur über das Geld zu reden, das ist knapp, das wissen wir, aber Phantasie ist noch am billigsten, die kostet nicht sehr viel. Dazu müssen wir die jungen Autoren ermutigen, wieder für Theater und Opernbühne zu schreiben, Stoffe zu finden, die das Heute gestalten, vom Heftigsten bis zum Allerschönsten. Der schöpferische Autor muss wieder in den Vordergrund gerückt werden, nicht der Regisseur, der alte Stücke neu erzählt und die Musik zum Beiwerk macht. Wir brauchen eine Opernreform, eine neue Sicht auf Oper.“
Heyn: Das Musiktheater war sein Ein und Alles. Er erzählte gern nach dem Unterricht bei Rotwein, wie er zu Peter Hacks ging mit Libretti, die ihm angeboten worden waren und Hacks gesagt haben soll: „Ich verbiete Ihnen, das zu komponieren“. Worauf er, Matthus, vergnügt geantwortet habe: „…woraus folgt, dass Sie mir ein Besseres schreiben müssen“. Hacks beschreibt diese Szenen aus seiner Sicht in dem höchst vergnüglichen Buch „Die Maßgaben der Kunst“ fast genauso. Es wird sich also so oder so ähnlich abgespielt haben.
Behauptet durch die Zeit
Worauf er stolz ist? Dass er sich als einfacher Bauernjunge aus dem Ostpreußischen, der eine paradiesische Kindheit in landschaftlich schöner Umgebung hatte, durch die Zeiten hindurch behaupten konnte. Dass er unter anderem für die New Yorker Philharmoniker komponierte (Concerto for Two für Trompete und Posaune, 2002), vor der UNO gespielt wurde und in den meisten Musikzentren der Welt Aufführungen hatte. Dass zahlreiche Solist*innen der Kammeroper Rheinsberg, die er 1991 gründete und seitdem künstlerisch leitet, ebenda ihre internationale Karriere begonnen haben und heute an der Met, der Mailänder Scala und anderswo agieren. Schon 2013 hatten sich bereits an die 500 Teilnehmer beworben, von denen circa 40 ausgewählt werden…
Heyn: Das Musiktheater, die Sängerinnen und Sänger, das Orchester, der ganze Apparat, ja, dafür konnte er sich leidenschaftlich engagieren und das war auch der Grund, warum ich unbedingt zu ihm als Lehrer wollte. Ich hatte ja vorher bei Prof. Siegfried Thiele (witzigerweise auch ein Tischlersohn wie er) Unterricht. Thiele brütete über den Partiturseiten, schlug vor und zurück und verglich alles. Meist kam dann die Frage: ist das hier ein F oder ein Fis? Kompositionsstudenten vermuten hinter so einer Frage immer einen Fehler oder eine Falle, oder beides. Also Fis. Dann, Herr Heyn, sagte Thiele sehr väterlich, müsste es auf Seite 46 im 2. Fagott ein His sein oder? Er fand auch in den Partituren von Lutoslawski oder Penderecki Fehler. Matthus blätterte die Partitur einmal mit dem Daumen durch und sagte: „Der 2. Akt ist ein bisschen kurz.“ Dann zeigt er mir sein frisch gehobeltes Brett für den neuen Arbeitstisch und es gab wieder Rotwein. Zu seinen Schülern gehörten auch Bernd Franke, Thomas Hertel und Reinhard Pfundt. Jeden führte er in eine andere, eigene Richtung. Obwohl das auf Prof. Thiel genauso zutrifft. Das sind starke Persönlichkeiten, die ihre Ideale vorlebten und weitergaben.
Der Tod für ihn? „Er gehört nicht zum Leben, auch wenn das oft behauptet wird. Er ist das Ende und nicht etwas, das in Talkshows oder Fernsehfilmen thematisiert werden muss.“ Über die aktuelle Themenwoche im Fernsehen ist er empört. Er erinnert sich an die damalige Flucht im Alter von zehn Jahren und die Angst davor, dass es das schon gewesen sein sollte. „Ich war mir sicher, dass wir es nicht mehr schaffen würden, den Russen zu entkommen und fand, zehn Jahre seien ein bisschen kurz für ein Leben.“
Inzwischen ist Siegfried Matthus drei Jahre tot. Er hat an die 600 Werke komponiert und viele Orden erhalten wie unter anderem den Nationalpreis der ehemaligen DDR, den Verdienstorden 1. Klasse der Bundesrepublik, den Preis des Internationalen Theaterinstituts Berlin, den Deutschen Kritikerpreis, den Verdienstorden des Landes Brandenburg. Er war Mitglied mehrerer Akademien und im Hafendorf Rheinsberg ist die „Siegfried-Matthus-Arena“ nach ihm benannt worden. „Die Zeit wird knapper, mit jedem Tag, das wissen wir. Deshalb muss man sie intensiv nutzen.“ Siegfried Matthus hat sie genutzt.
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